Lager Friedland:Nebel über dem Paradies

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Wie das Lager Friedland Deutschstämmige für das Leben in der Bundesrepublik schult - und neue Aufgaben sucht.

Julius Müller-Meiningen

Wie es in München wohl aussieht? Svetlana stellt sich glitzernde Geschäfte vor und große Hotels. Anastasia denkt an schöne Häuser, wasserspuckende Brunnen, grüne Parks und vielleicht, meint sie, gibt es manchmal sogar Schnee dort. München, das ist für Svetlana und ihre Tochter Anastasia aus Usbekistan dem Paradies ziemlich nahe. Volle Geschäfte, frisch geteerte Straßen, die Universität, eine glitzernde Zukunft. Das hat auch damit zu tun, dass ihre Gegenwart gerade etwas trist ist: Nebelwetter in der niedersächsischen Provinz.

Seit sechs Monaten leben Anastasia und Svetlana im Grenzdurchgangslager Friedland, ein paar Kilometer südlich von Göttingen. Friedland, das ist der Beginn von Träumen, die in Erfüllung gehen, aber auch von Träumen, die platzen. Seit 1945 ist das so, als hier nach dem Krieg die ersten Flüchtlinge unterkamen.

Svetlana, 38, und Anastasia, 18, heißen mit Nachnamen Schulz. Sie sind aus Nawoi in Usbekistan nach Friedland gekommen. Svetlana hat deutsche Vorfahren, deshalb werden Menschen wie sie im Bundesvertriebenengesetz als "Abkömmlinge" sogenannter Spätaussiedler bezeichnet. Wer heute nachweist, ausreichend Deutsch zu können, bekommt die deutsche Staatsbürgerschaft. Anastasia, die Tochter, soll einmal an einer deutschen Universität studieren, das hat sich die Mutter fest vorgenommen.

Crashkurs Deutschland

Von Friedland aus werden alle Spätaussiedler auf die deutschen Bundesländer verteilt. Familie Schulz wird nach München kommen, eine Verwandte lebt schon dort. Und jedes Mal, wenn für einen der Lagerbewohner mit dem Abschied aus Friedland die Zukunft beginnt, geht das Lager wieder ein Stück seinem Ende entgegen.

Es gibt immer weniger Spätaussiedler, die aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion, vor allem aus Usbekistan und Kasachstan, nach Deutschland kommen. 1990 waren es noch fast 400.000. Im vergangenen Jahr gerade noch 5792, so wenige wie noch nie. Deshalb ist das Gerücht wieder aufgekommen, Friedland, ein Teil der deutschen Nachkriegsgeschichte, werde bald geschlossen.

Dass die Tage des Lagers gezählt sind, darüber bestehen keine Zweifel. Viele Nachkommen der deutschen Aussiedler, die seit den Zeiten Katharinas der Großen (1729-1796) nach Russland emigrierten, sind bereits nach Deutschland gekommen, andere sehen inzwischen eine Zukunft im Osten. Und es kommen immer weniger. "Diese Tendenz wird sich fortsetzen", sagt Heinrich Hörnschemeyer, der Leiter des Durchgangslagers. Wie soll es also weitergehen?

Vergangenes Jahr hat die niedersächsische Landesregierung Pläne für ein großes Friedland-Museum angestoßen, was die Zukunft des Lagers deutlich beschreibt: Friedland wird Geschichte. Aber Heinrich Hörnschemeyer, ein drahtiger Mann mit Schnauzer und wachen Augen, denkt noch lange nicht an das Ende. Sein Plan heißt Integration. Schon seit 2006 werden den Aussiedlern in Friedland kostenlose Kurse angeboten, in denen 600 Stunden Deutsch und 45 Stunden Landeskunde gelehrt werden. Viele der Aussiedler bleiben deshalb freiwillig ein halbes Jahr statt nur zwei Wochen, in denen die Aufnahmeprozedur abgeschlossen wird.

Bis zu 17 Kurse liefen im vergangenen Jahr parallel. Mit zusätzlichen Angeboten versuchen Hörnschemeyer und seine Mitarbeiter den Menschen ihren Aufenthalt in Friedland ,,schmackhaft'' zu machen, wie er sagt. Neben Freizeitbeschäftigungen wie Sport oder Handarbeits-stunden gibt es Informationsveranstaltungen dazu, wie man ein Bankkonto eröffnet oder eine Krankenversicherung abschließt. Hörnschemeyer will das Angebot ausbauen. Gelegentlich kommen jetzt schon zwei Polizisten aus dem Ort vorbei, um sich vorzustellen und den Aussiedlern die deutschen Verkehrsregeln zu erklären.

Auch sie sind Bruchstücke von Hörnschemeyers Konzept. "Ich bin überzeugt, dass die Einrichtung noch lange existieren wird", sagt er. In 50 Jahren, so schätzt er, ist jedoch definitiv Schluss. Denn nur, wer vor dem 1. Januar 1993 geboren wurde, kann die Spätaussiedler-Regelungen für sich in Anspruch nehmen. Sind die Letzten gekommen, ist Friedland endgültig Geschichte.

Es ist ja schon heute ein wenig so: Wenn der Leiter des Lagers aus seinem etwas tristen und ganz in Grau gehaltenen Büro aus dem Fenster sieht, fällt sein Blick auf ein grünes, gerundetes Wellblechdach. Es ist die letzte der sogenannten Nissenhütten, den zugigen Baracken, in denen nach dem Krieg die Flüchtlinge unterkamen.

In der Hütte ist heute eine kleine Ausstellung eingerichtet, die die Geschichte des Lagers erzählt. Im September 1945 ließ der britische Oberstleutnant Perkins die Viehställe eines Versuchsgutes der Universität Göttingen beschlagnahmen, um ein provisorisches Lager für Kriegsflüchtlinge einzurichten. Die kamen schon damals vor allem aus dem Osten. Friedland lag strategisch günstig, hier stießen die britische, amerikanische und sowjetische Besatzungszonen aneinander, die Straße war nicht zerstört und ein Bahnhof in der Nähe.

Mit Würsten und viel Bier

1946 kamen bis zu 12.000 Menschen täglich im Lager an, das immer weiter ausgebaut werden musste. Immer, wenn eine Gruppe von Flüchtlingen oder Rückkehrern im Lager eintraf, läutete die Friedlandglocke, die zu einem Symbol wurde, das heute etwas rostig und überflüssig inmitten einfacher Baracken steht. Die Glocke läutet schon lange nicht mehr. Auch nicht, als 1956 Flüchtlinge nach dem Ungarn-Aufstand, als 1973 Verfolgte des Pinochets-Regimes aus Chile oder 1976 die Boat-People aus Vietnam ankamen.

In diesen Tagen zählt Hörnschemeyer gerade einmal 400 Lagerbewohner, dazu kommen ein paar wenige jüdische Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion, zu deren Aufnahme sich die Bundesrepublik verpflichtet hat. 40 von ihnen halten sich gerade im Lager auf. Die Zahlen wirken mickrig im Vergleich zu den 1990er Jahren, als Friedland und seine Baracken dem Ansturm aus dem Osten kaum gewachsen waren. Wie viele noch kommen werden, weiß niemand genau. Fest steht, dass es nicht mehr viele sein werden. Auch die gesetzlichen Hürden sind höher geworden. Fernab von Friedland hat das zur Folge, dass beispielsweise in Usbekistan rauschende Feste gefeiert werden, wenn wieder jemand erfolgreich durch den Deutschtest gekommen ist.

Familie Orth zum Beispiel, deren neun Mitglieder in Friedland leben. Als im vergangenen Sommer die sechs Erwachsenen nach langem Studium die Deutschprüfung am Goethe-Institut in Taschkent bestanden hatten, da wurde mit Würsten und viel Bier im dortigen deutschen Gasthof gefeiert. "Wir sind keine Usbeken, Deutschland ist mein Vaterland", sagt der 62-jährige Nikolai Orth bestimmt und mit kräftigem Akzent.

Acht Jahre haben sie gewartet, bis die Unterlagen zur Ausreise genehmigt waren. Und jetzt stehen sie hier im niedersächsischen Nieselregen. Sieht man den Orths ein bisschen länger in die Augen, wirkt es so, als träumten nicht wenige von den milden usbekischen Wintern und vom heißen Sommer - zu Hause, hätte man fast gesagt. Doch das wird für Familie Orth demnächst das Städtchen Nordenham bei Bremerhaven sein.

© SZ vom 3./4. Mai 2008 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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