Es ist kein Wunder, dass die Menschen von überall hierher strömen. Vor allem die Engländer und die Deutschen lieben die Toskana mit ihren sprichwörtlich sanften Hügeln, die in der Früh in blauen Dunst gehüllt und abends in rotes Licht getränkt sind. Südlich von Arezzo ist die Landschaft besonders schön, malerisch und lieblich. Hier, wo die Ebene der Val di Chiana mit den grün bewachsenen Hügeln von Cortona verschmilzt, wo die Straßenkreuzungen von Zypressen gesäumt sind, wo im Sommer die Vögel zwitschern und die Zikaden zirpen.
"Ein furchtbarer Ort", sagt Gino M., der heute 79 Jahre alt ist. Auf den Tag genau vor 64 Jahren wurde er Opfer eines brutalen Attentats der deutschen Wehrmacht auf die Zivilbevölkerung in dieser Gegend. Am 27. Juni 1944 jagten Angehörige des Gebirgs-Pionier-Bataillons 818 ein Steinhaus in die Luft, in das sie zuvor elf Menschen gesperrt hatten.
Gino M. war damals 15 Jahre alt und überlebte als Einziger. Hier in Falzano, ein paar Kilometer östlich von Cortona. Hier, wo die Zikaden zirpen und Zypressen die Straßenkreuzungen säumen. "Ich komme nur ungern an diesen Ort zurück", sagt Gino M.
Nur ein Altar erinnert an die "furia tedesca"
Von Cortona, dieser prächtigen, mittelalterlichen Stadtfestung, führt eine nicht einmal 20 Kilometer lange, kurvige Straße über die Hügel in ein kleines Tal, in dem Falzano liegt. Falzano selbst, der ehemalige Weiler, existiert nicht mehr. Nur zwei Ortsschilder erinnern daran, dass hier einmal Leben war, eine Kirche, ein Schulhaus. Nichts davon ist heute noch übrig.
Zwischen zwei großen Linden stand die Casa Canicci, die die Wehrmachtssoldaten mit den dort eingepferchten Menschen explodieren ließen. Nur noch ein Altar aus den Steinen der Ruine erinnert an die "furia tedesca", das Wüten der Deutschen an diesem Ort. So steht es auf der Gedenktafel des Altars. Gegenüber, zwischen den Zypressen, ist ein steinernes Kreuz für die Opfer der "deutschen Barbarei" aufgestellt. So steht es dort geschrieben. Wer hier zufällig vorbeikommt, der wird kaum merken, was für einen Ort er gerade passiert. So unauffällig sieht diese Kreuzung heute aus.
Gino M., der in einem Bauernhof in Poggioni, nahe bei Falzano aufwuchs, will nicht mehr hierherkommen. Er hat sich jedoch bereiterklärt, in seiner Wohnung in der Nähe von Cortona noch einmal von damals zu erzählen, ein letztes Mal. M. ist klein und dünn, sein blaues Hemd hat er akkurat in die graue Bundhose gesteckt. An seiner Oberlippe trägt er einen grauen Schnauzer, darüber blicken zwei wache, aber scheue Augen sein Gegenüber an.
"Ich war neugierig, ein Junge halt"
Im Wohnzimmer holt M. eine grüne Mappe hervor. "Documenti di Falzano, 1944, ultima guerra" steht darauf mit blauem Kugelschreiber geschrieben. Es sind die Unterlagen, aus der Zeit des letzten Krieges, die sein Schicksal dokumentieren. Gino M. braucht die Mappe nicht zu öffnen, um sich zu erinnern. Er hält sie einfach in der Hand und erzählt vom 27. Juni 1944.
"Die Deutschen durchkämmten an diesem Tag die ganze Gegend, weil am Vortag Partisanen zwei ihrer Soldaten erschossen hatten. Ich war 15 und draußen unterwegs, schließlich war ich neugierig, ein Junge halt. Dann sah ich ungefähr 30 deutsche Soldaten auf mich zukommen und lief weg. Ein paar von ihnen verfolgten mich und schossen sogar auf mich. Als die Patronen in der Nähe meiner Füße einschlugen, warf ich mich auf den Boden."
Auf der nächsten Seite wird Gino M. gerettet - und der Chef der verantwortlichen Kompanie streitet Jahrzehnte später jede Beteiligung am Massaker ab.
Gino M. erzählt weiter, wie ihn die Soldaten einholten und mit Füßen traten, mit elf anderen zum Bauernhof nach Aiola brachten, der ein paar hundert Meter von Falzano entfernt lag. "Wir mussten uns an der Außenmauer des Bauernhofs aufstellen. Ich hatte kurze Hosen an, das Gras piekste mich in die Beine. Ich war mir sicher, dass wir nun erschossen werden."
Plötzlich habe ein Motorrad mit Beiwagen in der Nähe des Bauernhofs angehalten. "Der Soldat aus dem Fahrzeug gab Befehle auf Deutsch, die ich nicht verstand. Dann wurden wir hinunter nach Falzano getrieben, zur Casa Canicci. Die Deutschen drängten uns in das Erdgeschoss, eine Art Stall." Er sei der drittletzte gewesen, der hineingestoßen wurde, bevor die Soldaten das Tor mit Stacheldraht verrammelten. "Ich drängte mich in eine der Ecken, die anderen legten sich auf den Boden. Dann hörten wir draußen mehrere Explosionen, Bum, Bum. Das waren die anderen Häuser. Wir wussten, dass sie uns nun umbringen würden."
Ein "terroristischer Akt" zur Einschüchterung
Dann brachten sie schwere Kisten in das Obergeschoss. Ich sah es durch die Türschlitze. Wir hörten noch jemanden die Außentreppe herunterrennen, dann nichts. An die Explosion erinnere ich mich nicht mehr."
Es war nachmittags, als Gino M. das Bewusstsein verlor und die Gebirgsjäger auch das letzte Haus in Falzano gesprengt hatten. Er erwachte in der Nacht, unter den Trümmern der Casa Canicci. "Ich atmete den Staub und es roch nach Feuer", erzählt er. Eine Frau aus der Gegend, die ihren Hund suchte, hörte Ginos Jammern unter den Trümmern. "Warte, beweg dich nicht", soll sie gesagt und Hilfe geholt haben.
Dann zogen die Frau und ihr Bruder den 15-Jährigen aus den Trümmern. "Über meiner Brust lag ein Balken, der mich gerettet hatte und über meinen Beinen die Leiche eines der anderen", erzählt Gino M. und zeigt mit seinen Händen auf den eigenen Oberkörper und dann auf seine Beine. Sachlich und fast ohne sichtbare Emotion erzählt er vom Hergang des Massakers. Er versuche, den 27. Juni 1944 soweit wie möglich von seinem Inneren entfernt zu halten, sagt er. Mit schweren Verletzungen und Verbrennungen kam Gino damals ins Krankenhaus. Nach zwei Jahren wurde er entlassen und begann eine Karriere bei den Carabinieri.
Heute, so meint er, nach 43 Dienstjahren als Polizist, hätte er einen ganz anderen Blick für die Täter, an deren Gesichter er sich nach über 60 Jahren nicht mehr erinnern kann. Nach der Rekonstruktion der Geschehnisse durch ein Militärtribunal in La Spezia sollten durch das Massaker in Falzano zwei deutsche Gebirgsjäger gerächt werden, die am Tag zuvor von Partisanen bei Falzano erschossen worden waren. Als "terroristischen Akt" zur Einschüchterung der Zivilbevölkerung bezeichnete das Gericht die Tat.
Alle männlichen Bewohner eines Ortes sollten erschossen werden
Im September 2006 verurteilte es die beiden mutmaßlich für das Massaker verantwortlichen Offiziere, die heute 89-jährigen Herbert S. und Josef S. in Abwesenheit zu lebenslangen Haftstrafen. Im Herbst soll auch in München ein Strafprozess gegen Josef S. aus Ottobrunn eröffnet werden.
S., der seine Beteiligung abstreitet, war der Chef der Kompanie, auf deren Konto das Massaker nachweislich geht. Das haben Zeugenaussagen und Recherchen des italienischen Gerichts in deutschen Militärarchiven ergeben. Deshalb wurde der Ottobrunner von den Richtern aus La Spezia verurteilt. Als deutscher Staatsbürger wird er jedoch nicht ausgeliefert.
Im Urteil aus La Spezia, das ein Berufungsgericht in Rom im November 2007 bestätigte, wird Josef S.' Zusammenarbeit mit der Justiz als "nicht kollaborativ und irreführend" bezeichnet. Er habe beispielsweise anfangs gegenüber den Ermittlern geleugnet, zur Tatzeit in der Gegend von Falzano unterwegs gewesen zu sein. Diese Angaben widerrief S. später.
Im nächsten Teil spielt ein "Kameradenkreis" eine zwielichtige Rolle.
Er behauptet inzwischen, die Gefangenen der Feldgendarmerie übergeben zu haben. Beweise dafür gibt es nicht. Dem Urteil im Berufungsprozess zufolge war S. außerdem ein überzeugter NS-Soldat, der eine Zeitlang zum Stab des Generalfeldmarschalls Albert Kesselring in Italien gehörte. Auf Kesselring geht der sogenannte Bandenbekämpfungsbefehl vom 20. Juni 1944 zurück: Danach sollten alle männlichen Bewohner eines Ortes erschossen werden, in dem Partisanen unterstützt oder in dem deutsche Soldaten angegriffen wurden. Sieben Tage nach dem berüchtigten Befehl fand das Massaker von Falzano statt.
"Aus den Akten ergeben sich klare Anzeichen dafür, dass der Angeklagte sich überzeugt und absolut der Kriegsführung der Nazis widmete", heißt es auf Seite 25 des Urteils. Anzeichen dafür seien die Tatsache, dass der damals 19-jährige S. sich 1937 freiwillig zum Militär meldete und dort schnell Karriere machte. Außerdem habe er nach der Heilung eines Schädelbasisbruchs, den er durch die Explosion einer Mine 1943 im Kaukasus erlitt, den Wunsch geäußert, an die Front nach Italien verlegt zu werden. Er hätte auf Wunsch auch bei den Gebirgsjägern in Mittenwald bleiben können. So steht es in den Gerichtsakten.
"Ich habe wirklich verziehen"
Dort, in Mittenwald, wurde S. erst an Pfingsten 2007 beim Veteranentreffen der Gebirgsjäger gesehen, Der "Kameradenkreis", der dort jährlich zusammenkommt, wird von Kritikern aus dem Arbeitskreis "Angreifbare Traditionspflege" als "Selbsthilfegrupe für NS-Verbrecher" bezeichnet.
Auch Gerhart Klamert, der Anwalt von Josef S., gehört dem Kameradenkreis an. In der Zeitschrift Die Gebirgstruppe diffamierte er die Wehrmachtsausstellung 1997 in München als "Umfälschung" der Geschichte.
Forscher wie der Kölner Historiker Carlo Gentile oder Lutz Klinkhammer vom Deutschen Historischen Institut in Rom gehen davon aus, dass bis zu 10.000 Zivilisten zwischen 1943 und 1944 Opfer der deutschen Besatzung in Italien wurden.
Gino M. leidet noch heute unter den Folgen des Attentats. Oft muss er ein Korsett tragen, weil seine Wirbelsäule, die durch die Gesteinsbrocken in der Casa Canicci beschädigt wurde, den Oberkörper nicht allein stützen kann. Anfangs, so erzählt seine Frau, habe es Gino nicht einmal ertragen, Deutsch zu hören. "Aber inzwischen habe ich gemerkt, dass ich mit den Deutschen sehr gut auskomme", sagt er. Sein Sohn ist mit einer Deutschen verheiratet und lebt am Ammersee. "Ich habe wirklich verziehen", sagt Gino M. Nur eines versteht der 79-jährige noch heute nicht: "Was hatte ich als 15-Jähriger denn mit der ganzen Aktion zu tun? Was wusste ich denn vom Krieg?"
Bis heute hat Gino M. keine Entschädigung bekommen. Er bemüht sich auch nicht mehr darum, er will seinen Frieden und den 27. Juni 1944 nur noch so wenig wie möglich an sich heranlassen. Auch seinen beiden Söhnen hat er kaum von diesem Tag erzählt. "Ich will diese furchtbaren Momente einfach vergessen", sagt er zum Schluss.
Im letzten Teil erklärt Bürgermeister Vignini, was sich die Angehörigen der Opfer wünschen.
Für die Gemeinde Cortona sind die Ereignisse des 27. Juni 1944 noch immer "eine offene Wunde". Andrea Vignini sagt das, der 42-jährige Bürgermeister. Jedes Jahr legen Mitglieder des Gemeinderates einen Kranz am Gedenkstein in Falzano nieder. Eine Zeit lang besuchten sogar Schulklassen den Ort. Doch das Gedenken scheint langsam einzuschlafen.
Bis 1999 veranstaltete die Familie Cerotti an jedem Jahrestag des Massakers einen Gedenkgottesdienst und lud die Angehörigen zum Mittagessen in ihr Haus. Das Haus liegt ein paar hundert Meter von den Monumenten entfernt. Es ist die wiederaufgebaute Fattoria Crocioni, vor der Gino M. und die anderen zehn Todgeweihten sich an der Mauer aufstellen mussten, um dann zur Casa Canicci hinuntergeführt zu werden. Zu den Gedenkfeiern kamen immer weniger Angehörige der Opfer, von denen die meisten heute nicht mehr auf dem Gebiet der Gemeinde Cortona leben.
"Falzano gibt es eigentlich nicht mehr"
In den sechziger Jahren war die Bevölkerung aus den Hügeln nach Cortona und in die Ebene in Richtung des Trasimener Sees gezogen. Stattdessen haben dort nun die deutsche und die britische Toskana-Fraktion Quartier bezogen. "Ein paar deutsche Familien leben hier in der Gegend", erzählt Sauro Cerotti, der im ehemaligen Bauernhof Crocioni Ferienwohnungen vermietet. "Sie versuchen den Ort zu meiden. Es ist ihnen ein wenig peinlich."
"Falzano gibt es eigentlich nicht mehr", sagt Bürgermeister Vignini, den man in einem herrschaftlichen Büro im dritten Stock des mittelalterlichen Rathauses von Cortona treffen kann. Das Massaker ist Geschichte. Im Sommer ist die über der Tiefebene der Val di Chiana auf einem Hügel gelegene, malerische Stadt überlaufen von Touristen, viele davon aus Deutschland, vielleicht kommen sogar ein paar aus Ottobrunn.
Endlich anerkennen, dass es sich um ein Kriegsverbrechen handelte
Cortona, 23.000 Einwohner und Ottobrunn, 20.000 Einwohner, sind fast gleich groß und nun auf unterschiedliche Weise an ein und derselben Geschichte beteiligt. In Cortona versucht die Gemeinde nun, einen Zivilprozess ins Laufen zu bringen, um den Familien der Opfer nach 64 Jahren eine Entschädigung zu erkämpfen. In Ottobrunn hat Anfang Juni der Bürgermeister Thomas Loderer (CSU) eine "persönliche Ehrenerklärung" für den dringend verdächtigen Josef S. abgegeben. Er sei aufgrund persönlicher Gespräche und seiner Menschenkenntnis von dessen Unschuld überzeugt, sagte der Bürgermeister.
Josef S. saß 20 Jahre im Gemeinderat, war Ehrenkommandant der Feuerwehr und bekam 2005 wegen besonderer Verdienste um den Ort die "Bürgermedaille" überreicht. Ottobrunn tut sich schwer, Distanz zu diesem Mann einzunehmen, der die Geschicke der Gemeinde nach dem Krieg mitbestimmt hat und dennoch dringend als Kriegsverbrecher verdächtig ist. "Vielleicht hat er später ein ehrenwertes Leben geführt, aber das hat nicht ausgelöscht, was der Mann vorher getan hat." So sieht es Cortonas Bürgermeister Vignini.
Er würde sich freuen, wenn es Kontakt zur Gemeinde Ottobrunn gebe, sagt Vignini. Aber er hat Zweifel, ob es eine gemeinsame Basis gibt. Die Initiative müsste von den Deutschen ausgehen. "Ich verstehe nicht, was dort vorgeht. Erst muss ich verstehen, dann kann man weitersehen." Die Ermittlungen der Münchner Staatsanwälte würden für den Anstand der Deutschen sprechen. Niemand der Angehörigen der Opfer wolle Josef S. hinter Gittern sehen. "Wir wollen nur, dass endlich anerkannt wird, dass es sich bei dem Massaker von Falzano um ein Kriegsverbrechen gehandelt hat."