Krematorien in Deutschland:Nonstop in die Ewigkeit

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Weil sich immer mehr Menschen nach dem Tod verbrennen lassen, haben Krematorien oft lange Wartezeiten — nicht so in einem Dorf im Taunus.

Von Detlef Esslinger

Was macht man mit einem Munitionsdepot, das nicht mehr gebraucht wird? Dessen Grundstück so groß wie 50 Fußballfelder ist, das aber drei Kilometer vom Dorf entfernt liegt, mitten im Wald.

Vier Kilometer Wege umschließen es, alle paar Dutzend Meter stehen noch die Hütten, in denen einst die Granaten und MG-Patronen lagerten; Bestände der Bundeswehr, zum Schluss auch der Nationalen Volksarmee. Bürgermeister Hans-Dieter Ilgner dachte sich, ein Krematorium könnte die Lösung sein. Das wäre ein Anfang, zumindest.

Dachsenhausen im Vordertaunus, 1000 Einwohner, ein Schlecker, ein Stanglwirt, Eternit-Verschalungen an den Häusern, nicht nur an der Wetterseite. Ansonsten: schöne Gegend hier. Zusammen mit vier weiteren Gemeinden bildet Dachsenhausen die Verbandsgemeinde Braubach; die Marksburg, steil über dem Rhein, hat einen Japaner so fasziniert, dass er sie vor acht Jahren auf Okinawa nachgebaut hat, nur, Geld bringt sie natürlich nicht.

Der größte Industriebetrieb in der Verbandsgemeinde: ein Batterie-Recycler, mit 83 Beschäftigten, aber auch eine Firma mit 20 Beschäftigten ist hier eine Seltenheit. Das Munitionsdepot hatte 23. Man musste sich etwas einfallen lassen, als es vor zwölf Jahren geschlossen wurde. Der Geschäftsführer Karl-Heinz Könsgen lässt jedermann hinein in das Krematorium.

Ein offenes Haus

Andernorts bleibt ein solcher Betrieb oft sogar für die Angehörigen der Mitarbeiter tabu. Könsgen aber, 48, legt Wert auf ein offenes Haus. Er führt durch die vier Kühlräume, in denen an diesem Tag 76 Särge untergestellt sind. Vier Öfen hat das Krematorium, vor jedem verläuft eine Schiene, darauf wird der Sarg später abgestellt, bevor er an der Reihe ist.

Dann lupft ein Mitarbeiter den Deckel, und der Geschäftsführer Könsgen fragt seinen Gast: "Wollen Sie mal?" Der Gast drückt den Start-Schalter, die Klappe des Ofens fährt hoch, und auf der Schiene gleitet der Sarg hinein. Könsgen geht nun die Treppe hinunter, zur Rückseite des Ofens. Dort glühen in Aschekästen auf dem Boden die Überreste aus.

Ein Häufchen Asche, eine verkohlte Schraube vom Sarg, Knochenkalk. "Hier", sagt der Geschäftsführer, mit dem Zeigefinger auf ein schmales Stück deutend, "ein Hüftknochen."

So genau erfahren es alle Besucher hier; die Landfrauen, die regelmäßig in Bussen kommen, die Mitarbeiter von Hospizen, die Bestattungsunternehmer. Könsgen findet, ein Krematorium muss offen sein. Einerseits wollen sich nämlich mehr und mehr Menschen nach ihrem Tod verbrennen lassen. Anfang der neunziger Jahre war es nach einer Statistik des Bundesverbandes Deutscher Bestatter noch jeder Fünfte, inzwischen verfügt dies beinahe jeder Zweite.

In Dachsenhausen erleben sie ja selbst die steigende Nachfrage: Als vor drei Jahren eröffnet wurde, brauchte man noch keine vier Öfen, damals reichte einer.

Andererseits, es herrscht soviel Unwissenheit. "Die Leute haben die unmöglichsten Vorstellungen", sagt Könsgen. Winzer in Boppard - am anderen Rheinufer gelegen, hinter der nächsten Biegung - sorgten sich wegen Krematoriums-Abgasen. Ob die auf ihre Trauben rieselten? Und die ersten Fragen, die Besuchern durch den Kopf gehen, sind sowieso meistens dieselben: Was passiert mit den Goldzähnen?

Und steht hinter dem Ofen einer mit der Schippe? Auf der noch die Asche vom Vordermann klebt? Also zeigt der Geschäftsführer Könsgen lieber unaufgefordert die Aschekästen, zum Beweis. Mehr als 1000 Grad Celsius wird es in den Öfen heiß, Goldzähne schmelzen bei der Temperatur.

Warten auf Nekropolis

Der Betrieb nimmt für sich in Anspruch, besser als kommunale zu sein. Besser heißt in dem Fall: schneller. Oft liest man in der Zeitung ja Todesanzeigen, in der jeweils Ort und Uhrzeit einer Trauerfeier mitgeteilt werden; worauf dann allerdings der Nachsatz folgt: "Die Urnenbeisetzung findet zu einem späteren Zeitpunkt statt."

Wenn man das lese, sagt Karl-Heinz Könsgen, dann wisse man gleich, dass der Verstorbene nicht in Dachsenhausen eingeäschert wird. Die meisten Krematorien sind Eigenbetriebe der Kommunen, und in der Tat - wer zum Beispiel bei Willi Ecker, dem stellvertretenden Vorsitzenden des rheinland-pfälzischen Bestatterverbands, nachhört, dem wird von den üblichen Problemen mit kommunalen Betrieben berichtet: dass die ihre festgelegten Öffnungszeiten haben, und nach 17 Uhr ist Feierabend.

Und sowieso muss jede Reparatur, jede Erweiterung, jede Planstelle durch die Gremien der Gemeinde; die Ausstattung der Betriebe hängt also nicht vom Bedarf, sondern von der Etatlage ab. Also kommt es zu wochenlangen Wartezeiten.

Dachsenhausen dagegen gehört zu den Krematorien in Deutschland, die als GmbH geführt werden. Der Geschäftsführer Könsgen kommt nicht aus dem öffentlichen Dienst, sondern aus der Wirtschaft; bis vor drei Jahren gehörte ihm eine Firma für Kanalbau. Wenn er einen neuen Ofen braucht und es sich rechnet, dann bestellt er einen. Aus ganz Rheinland-Pfalz, aus dem Saarland, sogar vom Niederrhein fahren Bestatter hierher.

Könsgen äschert im Drei-Schicht-Betrieb ein, von Montag, 6 Uhr, bis Samstag, 18 Uhr, durchgehend, 10.000 Leichen im Monat. "Für ein privates Krematorium ist das normal", sagt Willi Ecker vom Bestatterverband. Eigentlich will der Geschäftsführer Könsgen die Zahl 10.000 nicht mitteilen. Weil die Leute dann Massenabfertigung, also Pietätlosigkeit vermuten.

"Aber man muss es doch genau umgekehrt sehen", sagt Karl-Heinz Könsgen. "Bei uns muss keiner warten." Drei Tage, länger dauert es in Dachsenhausen nicht, bis ein Bestatter die Urne mit der Asche in Empfang nehmen kann. Trauerbewältigung kann ja erst nach der Beisetzung beginnen, im Grunde bedeutet es also für Hinterbliebene eine Zumutung, wenn sie sich andernorts fünf oder sechs Wochen gedulden müssen.

Es soll nun nicht beim Krematorium bleiben auf dem Gelände des ehemaligen Munitionsdepots. Der Bürgermeister Ilgner, SPD, war im Jahr 2001 nicht mehr angetreten. Mit damals 61 Jahren und nach fast zwei Jahrzehnten im Amt fand er es an der Zeit aufzuhören. Er ist mit seiner Frau an die Nordsee gezogen, in die Gegend von Cuxhaven, wo er nun ein Planungsbüro betreibt.

Auf dem Besprechungstisch in Könsgens Büro breitet er einen Plan des Depot-Geländes aus, auf den er geklebt hat: Fotos von Mausoleen; jeweils dorthin, wo bislang die alten Munitionshütten stehen. Ilgner will eine Nekropole auf dem Gelände errichten, eine Totenstadt. Über die mögliche Kundschaft sagt er: "Menschen, die sich auch nach ihrem Tod noch selbstverwirklicht sehen wollen." Jedenfalls wäre genügend Platz im Wald, nicht nur für Tote.

Ein Künstlerdorf stellen Ilgner und Könsgen sich vor: wo Steinmetze ihre Werkstätten errichten, außerdem Bildhauer, Kunsthandwerker, Gartenbauer. Die Verbandsgemeindeverwaltung Braubach will das Projekt absegnen, nächstes Frühjahr könnte es dann losgehen.

Es handelt sich um eine Behörde, der Ilgner das unternehmerische Denken hinterlassen hat. Jeden Abend um 20 Uhr schickt sie eine Mitarbeiterin in das Krematorium, die die Bestattungsgenehmigung erteilt; jeden Abend um 20 Uhr kommt auch der Amtsarzt von der Kreisverwaltung, der die zweite Totenschau vornimmt. Nur so ist es möglich, auch nachts einzuäschern, nur dann ist es möglich, die Drei-Tage-Garantie aufrechtzuerhalten, nur deshalb kommen all die Bestattungsunternehmer vom Niederrhein.

Für jede Einäscherung zahlt das Krematorium der Verbandsgemeinde eine Abgabe, außerdem kassiert diese Gebühren für die Bestattungsgenehmigungen. Knapp 90.000 Euro kommen so im Jahr zusammen, beim letzten Mal war es der Betrag, der zum Ausgleich des Etats gebraucht wurde. Und Geschäftsführer Könsgen beschäftigt inzwischen mehr als 30 Mitarbeiter. Er ist ein größerer Arbeitgeber als einst die Bundeswehr.

© SZ vom 7.12.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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