Konflikt im Westjordanland:Gezielte Eskalation

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Nach dem Tod eines palästinensischen Familienvaters in israelischer Haft ist die Lage im Westjordanland brenzlig wie schon lange nicht mehr. Präsident Abbas könnte das durchaus gelegen kommen.

Von Peter Münch, Tel Aviv

In seinem Heimatdorf Sair nahe Hebron haben sie Arafat Dscharadat am Montag zur letzten Ruhe gebettet, und Tausende folgten seinem Leichnam. Mit militärischen Ehren und eingehüllt in eine palästinensische Flagge wurde ein Märtyrer beigesetzt. Begleitet war das Begräbnis von Trauer und Wut - und von einer erhöhten Alarmbereitschaft der israelischen Armee im gesamten Westjordanland.

Denn der Tod des Familienvaters in israelischer Haft könnte ein weiterer Funken sein, der die Flammen hochsteigen lässt in den besetzten palästinensischen Gebieten. So brenzlig wie derzeit war die Lage tatsächlich schon sehr lange nicht mehr - und ausgerechnet vor dem mit großer Hoffnung erwarteten Besuch von US-Präsident Barack Obama in der Region am 20. März wird nun sogar wieder vor einer dritten Intifada gewarnt.

Arafat Dscharadat war vor einer Woche verhaftet worden. Er soll Steine geworfen haben, ein Routinefall. Am Samstag aber ist er, vermutlich nach intensiven Verhören durch den Geheimdienst Schin Bet, plötzlich verstorben. Aus dem Gefängnis in Megiddo wurde sogleich ein Herzstillstand als Todesursache gemeldet. Doch nach einer ersten Obduktion eilte der palästinensische Minister für Gefangenenfragen in Ramallah vor die Presse. Rippenbrüche und Blutergüsse waren festgestellt worden. Aber während die Israelis dies auf die Wiederbelebungsmaßnahmen schoben, erhob Issa Karaka öffentlich schwerwiegende Vorwürfe: Von "Folter" sprach er und von einem "Kriegsverbrechen."

Dabei war die Lage schon vorher aufs Äußerste angespannt. Seit Tagen kommt das Westjordanland nicht zur Ruhe, in vielen Städten und vor israelischen Haftanstalten gibt es Krawall. Die Demonstranten fordern die Freilassung von Gefangenen in sogenannter Administrativhaft, die ohne Gerichtsverfahren über Monate festgehalten werden können. Empörung löst zudem aus, dass mittlerweile wieder 14 Palästinenser eingesperrt wurden, die im Oktober 2011 zusammen mit etwa tausend anderen gegen den im Gazastreifen eingekerkerten israelischen Soldaten Gilad Schalit ausgetauscht worden waren.

Einer von ihnen, Samer al-Issawi, befindet sich mit drei weiteren Häftlingen seit mehr als 200 Tagen im Hungerstreik. Sein Zustand wird als lebensbedrohlich beschrieben. Der arabisch-israelische Knesset-Abgeordnete Mohammed Barakeh, der ihn in der Haft besuchte, warnte eindringlich, "wenn al-Issawi im Gefängnis stirbt, wird die Region in Brand geraten".

Den Ernst der Situation hat mittlerweile auch die israelische Regierung erkannt. Premierminister Benjamin Netanjahu, der fast vier Wochen schon durch zähe Koalitionsverhandlungen von allem anderen abgelenkt ist, forderte die Palästinensische Autonomiebehörde nun eindringlich dazu auf, "Recht und Ordnung zu bewahren und Gewalt zu verhindern". Er ruft also die palästinensischen Sicherheitskräfte zur Hilfe, ohne deren Kooperation er die Lage nur schwer unter Kontrolle bringen kann.

Rauchzeichen über Ramallah

In dieser Zwangslage hat er nun ein Zeichen des Entgegenkommens gesendet: Netanjahu dreht den Geldhahn wieder auf, den er im November als Bestrafung dafür zugedreht hatte, dass die Palästinenser bei den Vereinten Nationen zum beobachtenden Nicht-Mitgliedstaat aufgewertet worden waren: Umgerechnet knapp 100 Millionen Euro an Zolleinnahmen wurden nach Ramallah weitergeleitet, damit Präsident Mahmud Abbas seinen Sicherheitskräften zur Steigerung der Motivation wenigstens den Sold für Januar überweisen kann.

Ob das reicht, um die Gemüter zu beruhigen, ist fraglich. Präsident Abbas versicherte zwar gerade erst wieder in einem Interview, dass er nur gewaltlose Proteste unterstütze. Doch eine begrenzte Eskalation passt derzeit ins Kalkül der palästinensischen Führung. Ihr ist daran gelegen, den nahöstlichen Friedensprozess wieder nach oben auf der internationalen Agenda zu bringen. In Ramallah muss es wie ein Schock gewirkt haben, dass als wichtigste Themen des anstehenden Obama-Besuchs die Lage in Syrien und das iranische Atomprogramm genannt worden waren. Mit Unruhen in den besetzten Gebieten lässt sich deutlich machen, dass auch das jahrzehntelange nahöstliche Kernproblem noch auf eine Lösung wartet.

So gesehen könnte es also sinnvoll erscheinen, Präsident Obama mit ein paar dunklen Rauchzeichen am Himmel über Ramallah zu empfangen. Jede gezielte Eskalation freilich birgt Gefahren. Niemand weiß, wie lange sich eine Protestwelle von der ohnehin nicht sonderlich starken Führung in Ramallah kontrollieren lässt.

Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung sind groß unter den Palästinensern, zu viele haben zu wenig zu verlieren. Zudem glaubt kaum noch einer, dass Präsident Abbas auf seinem Kurs zum Ziel kommt. Er hat außer symbolischen Erfolgen bislang weder auf dem Verhandlungsweg noch mit der Blockade von Verhandlungen wegen des israelischen Siedlungsbaus irgendetwas erreicht. Vom Gazastreifen aus ist die konkurrierende Hamas allzeit bereit, den Druck zu erhöhen. Sehr schnell könnte es überdies bei den Protesten oder beim Hungerstreik weitere Todesfälle geben.

© SZ vom 26.02.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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