Kommentar:Zwischen Größe und Wahn

Lesezeit: 4 min

Selten war Europas Außenpolitik so konfus und widersprüchlich. Die EU braucht einen Vermittler. Das könnte Deutschland sein, wenn Schröder mit seinem Spagat zwischen französischer und britischer Freundschaft nicht die kleinen EU-Partner verprellen würde.

Von Stefan Kornelius

(SZ vom 20. September 2003) Am Donnerstag hielt es die New York Times für angebracht, Frankreich den Krieg zu erklären. "Es ist an der Zeit, dass sich Amerika mit etwas abfindet: Frankreich ist nicht nur ein nerviger Verbündeter. Frankreich wird Amerikas Feind."

Dann erklärt der Groß-Kolumnist Thomas Friedman, warum dies so sei. Paris nämlich wolle, dass die USA im Irak scheiterten. Auf diesem Weg könne sich Präsident Chiracs Wunsch nach einer starken außenpolitischen Rolle seines Landes am schnellsten erfüllen.

Eine interessante These, die - wenn sie nicht von einem in europäisch-außenpolitischen Fragen eher verständnisvollen Autor aufgestellt worden wäre - auf dem Müllhaufen der Konspirationen vermutet werden müsste. Dort gehört sie aber nicht hin, denn in der Tat muss sich der französische Präsident die Frage gefallen lassen, was eigentlich sein außenpolitisches Ziel ist, welche Rolle er zu spielen gedenkt angesichts einer verwirrenden Geometrie in den internationalen Beziehungen.

Tatsächlich ist die Außenpolitik in Europa selten so konfus und widersprüchlich gewesen wie in den letzten Monaten. Wenn sich an diesem Samstag die großen Drei - Jacques Chirac, Gerhard Schröder und Tony Blair -in Berlin treffen, dann können sie erst einmal auf ihrem Summenzettel eine beeindruckende Zahl von Negativa addieren: Zunächst werden viele kleinere EU-Partner irritiert sein, dass sich ein Machtkartell außerhalb der wohl etablierten Konsultations-Runden zusammentut, obwohl gerade ein Schröder oder ein Chirac den Wert gemeinsamer Außenpolitik so gerne preisen.

All dies geschieht auch noch wenige Tage, nachdem Schweden den Euro abgelehnt hat - nicht zuletzt, weil es sich von den Großen im Club der Europäer bedrängt fühlt und nicht zurechtkommt mit der Preisgabe nationaler Souveränität.

In Mittel- und Osteuropa - die Länder sind noch nicht einmal formell aufgenommen in die EU - gärt der Unmut über die Verfassung für Europa, wie sie wieder einmal vor allem von Deutschland und Frankreich gewünscht wird. In Großbritannien ist an eine europapolitische Initiative überhaupt nicht zu denken - Tony Blair könnte nach einem katastrophalen Irak-Jahr seinen politischen Exodus nur noch beschleunigen, wenn er nun für den Euro oder eine EU-Verfassung werben würde.

Alle gegen alle

In der Verteidigungspolitik basteln die Pralinen-Nationen Belgien, Frankreich, Deutschland und Luxemburg ohne langfristige Strategie am eigenen Hauptquartier und beobachten fasziniert, wie ihr Aufbauwerk - verstärkt durch amerikanische Bockigkeit in der Nato - die alte transatlantische Allianz ins Koma gleiten lässt. Groß gegen Klein, Ost gegen West, Reich gegen Arm, Kern gegen Peripherie, Atlantiker gegen Multipolaristen - Außenpolitik in Europa wird gewaltigen Interessens-Kämpfen ausgesetzt.

Das ist keineswegs ein neues Phänomen. Anders als bisher aber hat sich die Zahl der Spieler drastisch erhöht. Schlimmer noch: Die zentralen Figuren, die nun in Berlin zusammenkommen, verändern ständig die Regeln, weil sie selbst so unsicher sind, welchen Part sie in diesem neuen europäischen Gefüge übernehmen werden. Es fehlt also mehr denn je das einigende Thema, der Kitt, der die nationalen Interessen zusammenfügt.

Vielleicht ist es Europas größte Selbsttäuschung, dass es all seine Wehwehchen auskurieren möchte, ohne die zentrale außenpolitische Krankheit zu diagnostizieren: den Umgang mit den USA. Amerika war eine europäische Macht und Amerika wird eine europäische Macht bleiben - wer die Verflechtungen auf der Welt ohne ideologische Blendung betrachtet, der wird sich gar nicht der Einsicht verweigern können, dass Deutschland, Frankreich und Großbritannien ihr Verhältnis zu den USA auf eine gemeinsame Basis stellen müssen.

Wahr ist zwar auch, das die amtierende Regierung in Washington diese Klärung nicht gerade erleichtert. Im Gegenteil: Teile dieser heterogenen Bush-Mannschaft betreiben geradezu die Zersplitterung Europas. Aber Regierungen wechseln, und deshalb muss sich vor allem Chirac die Frage gefallen lassen, wie viel Amerika er in Europa zu akzeptieren bereit ist (genauso wie sich eines Tages eine hoffentlich weniger ideologische Regierung nach Bush fragen lassen muss, was ihr die Verbündeten wert sind).

Mit oder ohne USA

Die drei im Kanzleramt werden sich am Samstag vor dieser Frage nicht drücken können: Bevor die Europäer einen Forderungskatalog an Washington schreiben, bevor sie über UN-Resolutionen zum Irak, über Machtbefugnisse von Zivilverwaltern, über Kommandostrukturen und Truppen debattieren, müssen sie untereinander klären, ob sie die USA als Bestandteil des europäischen Sicherheitsgefüges akzeptieren oder nicht. Bei dieser Entscheidung geht es nicht um die persönliche Auseinandersetzung mit George Bush, es geht um die langfristige Ausrichtung der Außenpolitik.

Das Misstrauen gegenüber der französischen Variante von gemeinsamer Außenpolitik ist so tief verwurzelt, weil die Präsidenten der Republik immer wieder Anlass zu Zweifeln gegeben haben: Von de Gaulles Entscheidung über den Abzug der Uniformierten aus der Nato bis hin zu Chiracs arroganter Maßregelung der europäischen Kriegsbefürworter ("sie sollen ihren Mund halten") blitzte immer wieder der französische Selbstüberschätzungs-Reflex auf - der Reflex einer Nation, die alte, nationalstaatliche Größe nicht eintauschen mochte gegen modernes Bündnis-Denken.

Weil Frankreich am Antagonismus zu den USA wächst, weil es Bedeutung vor allem im Widerspruch sucht, entstehen unlösbare Probleme. Zum Beispiel bei der Verteidigung: Europa wird sich noch so sehr zusammenraufen können, es wird die militärischen Fähigkeiten der USA niemals erreichen. Warum sollte es auch? Sinnvoll wäre die Ergänzung: Wenn Europa schon in seine Verteidigung investiert, warum dann nicht im alten Nato-Bündnis unter neuen Voraussetzungen.

Warum sollte man nicht das Undenkbare denken, Frankreichs Rückkehr in das Bündnis anstreben unter der Voraussetzung, dass der Club von Europa geführt wird. Washington wird sich in der Führungsfrage arrangieren müssen, wenn es sich einem einigen Europa gegenüber sieht, das als Alternative mit dem eigenen Militär-Bündnis droht.

Wo zwei sich so sehr streiten, bräuchte es einen Vermittler. Der hieß in der Vergangenheit immer Deutschland, das geschickt mit amerikanischen und französischen Interessen jonglierte und so seine außenpolitische Ziele am besten erreichte. Früher. Heute hat der Bundeskanzler den dämpfenden Einfluss auf Paris verloren. Zaghaft versucht er, aus französischer Umklammerung auszubrechen ("ist doch selbstverständlich, dass wir im Irak helfen").

Die Rolle kann aber nicht gelingen, solange Schröder an einem Häkelmuster werkelt, bei dem er einmal den Tony zum Freund macht, dann den Jacques, und bei alldem die kleinen Partner verprellt. Deutschland hat eine große Chance in Europa - maßvoll vermittelnd, nicht mittellos vermessen.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: