Kommentar zum 3. Oktober:Wir und die Einheit

Lesezeit: 4 min

15 Jahre nach dem Mauerfall ist der Osten ein Ort der Klage, der Tristesse und des Protestes. Jedoch die Fehler, die beim Aufbau gemacht wurden, entsprachen der Größe der Aufgabe. Die Wiederbesiedlung mit Arbeitsplätzen und die Wiederbeseelung des Landes mit Zivilcourage dauert viel, viel länger als gedacht.

Von Heribert Prantl

Die Vertonung der deutschen Einheit klingt ungefähr so: Zunächst geht alles seinen schönen Gang - erst feierlich und vorwärts stürmend; doch dann wird das turbulente Allegro abgebrochen. Ein müdes Adagio schließt sich an.

Der Hornist führt noch ein klagendes Solo zu Ende, packt sein Instrument, bläst seine Kerze aus, nimmt Instrument und Notenpult und trollt sich. Der Flötist und der Oboist machen es ihm nach. Ein Musiker nach dem anderen verschwindet, bis nur noch zwei Geiger dasitzen, die das Stück seufzend und kümmerlich beenden.

Es handelt sich um Haydns Symphonie Nummer 45, genannt Abschiedssymphonie. Sie ist womöglich das passende Stück zur Feier des diesjährigen Tags der Deutschen Einheit in Erfurt. 15 Jahre nach dem Mauerfall ist der Osten nämlich ein Ort der Klage, der Tristesse, des Protestes - und viele, zumal junge Menschen machen es wie Haydns Musiker: Sie packen ihr Zeug zusammen und gehen.

Es gibt in den fünf neuen Bundesländern keine tragfähige Wirtschaftsstruktur, die Arbeitslosigkeit liegt im Schnitt bei zwanzig Prozent - das Land entvölkert sich. Fast zwei Millionen Menschen haben seit der Vereinigung den Osten verlassen.

Nachher ist man immer schlauer

Bei dieser neuen Republikflucht können die Flüchtlinge gut ausgebaute und schön beleuchtete Straßen benutzen. Die neue Infrastruktur ist luxuriös. In den Dörfern stehen die Straßenlaternen in Reih und Glied, und in den Städten zeigen elektronische Anzeiger an, wann der nächste Bus kommt.

Aber wenn es so weiter geht, beleuchten die Laternen die Ödnis, und in die Busse steigt niemand mehr ein. Klaus von Dohnanyi, der Leiter eines Beraterkreises Ost der Bundesregierung, denkt darüber nach, eine "industrielle Arbeitselite" aus Osteuropa für die Zuwanderung in den entvölkerten Raum Ostdeutschland anzuwerben.

Und ein Deutschland-Politiker wie Jürgen Schmude, früher SPD-Justizminister und später Präses der EKD, erinnert sich daran, wie er nach der Einheit angesichts der gewaltigen Aufgabe scherzhaft vorgeschlagen hatte, mit Entführungskommandos die zweihundert besten Manager der Welt zusammenzufangen.

In dieser Erinnerung steckt melancholische und berechtigte Kritik am Management des Aufbaus Ost. Doch nachher ist man immer schlauer. Eine vergleichbar penible Auflösung eines Staates hat es niemals zuvor in der Welt gegeben. Die Fehler, die gemacht wurden, entsprachen der Größe der Aufgabe.

Aufbau Ost: Der Westen hat investiert, was das Zeug hielt, und er nahm an, dass die Investitionen wie Trägerraketen auch die Demokratie in den Osten befördern würden.

Die Politikergeneration der Ärmelaufkrempler, deren Lebensleistung mit dem Wiederaufbau West der fünfziger Jahre begonnen hatte, ging mit diesen Erfahrungen und der fürsorglicher Entmündigung des Ostens an ein welthistorisches Experiment. Sie ließ die Maschinerie der Marktwirtschaft anrollen - und die war erst einmal sehr gefräßig.

Kanzler Kohl hatte zwar gesagt, dass nur wichtig sei, was hinten herauskommt. Hinten kam in der Tat einiges heraus - Spaßbäder, McDonald's, Baumärkte und da und dort auch blühende Landschaften.

Zuvor aber fraß die Maschinerie alles, was die Menschen im Osten hatten: Sie fraß deren bisheriges Leben, ihre Erfahrungen, ihre Selbstachtung, ihre Industrie, die alten Vorbilder, die Ost-Elite, die mehr oder weniger inoffiziellen Mitarbeiter der Stasi, die Politiker der ersten Wendestunden; die Maschinerie fraß den Stolz und die Sicherheit der Menschen, sie fraß das, was in der DDR schlecht gewesen war ebenso wie das, was gut gewesen war.

Sie schuf erst einmal tabula rasa; es gibt also nicht nur die Pflicht zur Herstellung innerer Einheit, sondern auch eine Garantenpflicht aus vorangegangenem Tun.

Die Wiederbesiedlung mit Arbeitsplätzen und die Wiederbeseelung des Landes mit Zivilcourage dauert viel, viel länger als gedacht. Und weil das so ist, breitet sich im Westen das Gefühl aus, der Aufbau Ost sei ein Fass ohne Boden. Das Lamento über das vermeintliche Billionengrab Ost, das sich zumal in den von Strukturschwäche geplagten Bundesländern wie Nordrhein-Westfalen erhebt, wird lauter.

Und deshalb würden es auch die Zahler im Westen gern so machen wie die Musiker in Haydns Symphonie: Irgendwann muss Schluss sein. Offiziell stellt zwar niemand die 156 Milliarden in Frage, die im Rahmen des Solidarpakts zwei bis 2019 in den Osten fließen sollen - inoffiziell schon.

Die Aufregung, die vor kurzem über ein Interview von Bundespräsident Horst Köhler herrschte, in dem er über den Subventionsstaat klagte und mahnte, nicht alle Unterschiede in den Lebensverhältnissen einebnen zu wollen, war vor allem deswegen so groß, weil diese Sätze auf eine schon aufgeladene Stimmung trafen. Und so hat der Stein, den Köhler ins Wasser werfen wollte, auf dass er Kreise ziehe, das Fenster getroffen. Es hat Scherben gegeben.

Vor zehn Jahren scheiterte in der Verfassungsreform-Kommission der Versuch, in die Präambel des Grundgesetzes als Staatsziel "das Bestreben, die innere Einheit Deutschlands zu vollenden", aufzunehmen; es sollte so gezeigt werden, dass es um mehr geht als um äußere organisatorische Einheit.

Die CDU/CSU weigerte sich damals mit dem Argument, man mache eine Verfassung nicht für zehn Jahre. Das war (und ist) wohl der Zeithorizont, der nun zu Ende ist. Daher kommt das allgemeine Unbehagen. Die Debatte über Ostförderung geht immer noch von dem Denken aus, dass "wir im Westen" "dem Osten" etwas zugesagt haben.

Richtig ist aber, so hat es Bundestagsvizepräsident a. D. Burkhard Hirsch gesagt, dass "wir" etwas "uns" zugesagt haben - weil "wir" eben Osten und Westen zugleich sind und weil "wir" aus unseren Problemen nicht herauskommen, wenn es Länder mit Arbeitslosigkeit von zwanzig Prozent und einem beachtlichen Wähleranteil gibt, der sich die Mauer zurückwünscht.

Ausstieg und Einstieg

Weiter, aber nicht so. Fehler und Fehlentwicklungen beim Aufbau Ost sind Aufforderung, sie zu korrigieren - nicht nur, aber auch mit Geld sowie mit dem Eingeständnis, dass Fehler gemacht worden sind. Es wäre ein neuer schwerer Fehler, sich damit abzufinden, dass die aktivsten Bürger im Osten ihre Zukunft im Westen suchen müssen - diejenigen aber eine Perspektive vom Leben im Osten haben, die sich den Rechtsradikalen und ihren Netzwerken anvertrauen.

Wer also den Osten nicht weiter für die Rechtsextremisten präparieren will, der muss etwas gegen den Exodus aus dem Osten tun und für Arbeitsplätze sorgen. In einem aussterbenden Land funktioniert auch der Aufbau von Zivilgesellschaft nicht.

Programme, die den Ausstieg von Rechtsextremisten aus der Szene befördern sollen, gibt es schon. Es wird auch Einstiegsprogramme geben müssen - Programme für den Einstieg in eine lebendige demokratische Gesellschaft. Die Wohnungen sind renoviert, die Telefonanschlüsse gelegt, Straßen- und Wegenetze ausgebaut worden. Die Arbeit an der Einheit aber hat erst begonnen.

© Süddeutsche Zeitung vom 2. Oktober 2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: