Kommentar:Zaudern und Zögern

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Der EU-Gipfel kann sich nicht dazu durchringen, die Verfassungskrise schneller zu beenden. Nun haben die Mitglieder noch ein wenig mehr Zeit zum Nachdenken. Dabei geht es um die Handlungsfähigkeit der Union.

Martin Winter

Wenn nichts mehr weiter geht, dann hilft es, sich selber unter Druck zu setzen. Mit dieser Methode hat die Europäische Union schon gute Erfahrungen gemacht.

Ohne die disziplinierende Wirkung fester Termine wären weder der Binnenmarkt noch die Währungsunion in einer akzeptablen Zeit zu Stande gekommen.

Jetzt möchten die Mitgliedsländer denselben Trick bei dem in Frankreich und den Niederlanden entgleisten Verfassungsvertrag anwenden. Doch so, wie es diesmal angelegt ist, kann es nicht funktionieren.

Denn anstatt den Druck zu erhöhen, wird er erst einmal verringert. Der Beschluss des europäischen Gipfels, dass Ende 2008 Vorschläge für eine Lösung der konstitutionellen Krise vorliegen sollen, verlängert die seit zwölf Monaten andauernde "Phase des Nachdenkens" nämlich unnötig lang um weitere zweieinhalb Jahre.

Natürlich sind die Mitgliedsländer frei, sich auch früher zu einigen. Aber alle Erfahrungen mit europäischer Trägheit sprechen dafür, dass sie die Frist bis zur letzten Sekunde ausnutzen werden.

Für die weitere Vertiefung der politischen Zusammenarbeit muss das schwerwiegende Folgen haben. Denn selbst wenn die EU sich Ende 2008 auf einen veränderten Verfassungstext einigen sollte, brauchen die Mitgliedsländer dann noch einmal mindestens ein Jahr zu dessen Ratifizierung.

Wertvolle Zeit verspielt

Die Hoffnung, den Menschen zur Europawahl Mitte 2009 eine modernisierte EU präsentieren zu können, ist somit dahin. Das wird das Ansehen der EU weiter beschädigen und auch die Bereitschaft der Völker verringern, dem Pfad des immer engeren Zusammenwachsens zu folgen.

Sicher wäre es naiv, vor den Wahlen in Frankreich und in den Niederlanden im kommenden Frühjahr einen Ausweg aus der Verfassungskrise finden zu wollen.

Die ganze Affäre jedoch auf die EU-Präsidentschaft Frankreichs in der zweiten Hälfte 2008 abzuschieben, mag zwar Rachegelüste befriedigen, nach dem Motto: Sollen die, die uns den Ärger eingebrockt haben, ihn doch auslöffeln!

Aber so wird wertvolle Zeit im Werben der EU um die Gunst ihrer Bürger verspielt.

Dabei geht es jedoch auch um die Handlungsfähigkeit der Union. Je mehr Zeit verstreicht, desto geringer wird die Bereitschaft der Mitgliedstaaten sein, sich noch einmal zu einem großen Wurf aufzuraffen, wie es die von einem europäischen Konvent im Jahr 2004 erarbeitete Verfassung ja ist.

Irgendwie über die Runden kommen

In dem Maße, in dem sich die Länder daran gewöhnen, mit den unzulänglichen institutionellen Strukturen irgendwie über die Runden zu kommen, wird die Neigung zu mehr als kosmetischen Korrekturen am europäischen Gefüge sinken.

Unter diesen Bedingungen gibt es auch in Berlin keinen Anlass zur Freude. Von Bundeskanzlerin Angela Merkel wurde zwar jetzt der Druck genommen, schon unter deutscher EU-Präsidentschaft im ersten Halbjahr 2007 die Weichen in eine neue Richtung stellen zu müssen.

Der den Deutschen für kommenden Juni abgeforderte Bericht über den Stand der Verfassungsdebatte ist nur eine unverbindliche Fingerübung.

In deutschem Interesse kann das nicht sein. Die europäische Einigung ist für niemanden so wichtig wie für die Deutschen.

Historisch, politisch und wirtschaftlich gibt es für sie keinen besseren Weg. Darum sollte Frau Merkel im kommenden Jahr schon Grundlagen für eine Verständigung entwerfen - und bei den Partnerländern dafür werben.

So schwer kann das ja nicht sein. Im Verfassungskonvent sind alle Varianten der Vertiefung der EU durchdiskutiert worden.

Am Ende hatte man sich dort auf einen für alle Regierungen akzeptablen Kompromiss geeinigt. Die Ablehnung des Verfassungsvertrags durch Franzosen und Holländer hatte alle möglichen Gründe, aber es war kein prinzipielles Nein zu einem stärkeren politischen Miteinander.

Europa muss nicht neu erfunden werden. Es gibt also keinen Grund, noch einmal dreißig Monate zuzuwarten.

© SZ vom 17.6.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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