Kommentar:Willkommen in der Wirklichkeit

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Es geht voran, in Ostdeutschland gibt es einen Stimmungsaufschwung. Das Zerrbild vom Jammer-Ossi hat ausgedient. Was kann die Politik daraus lernen?

Von Jens Schneider

Kann man in Bitterfeld lachen? Gar glücklich und zuversichtlich sein, wenn es um die kommenden Jahre geht? Mehr als fünfzehn Jahre nach dem Fall der Mauer löst schon der Gedanke an die Chemiestadt noch bei vielen Ortsfremden erste Spuren von Hautausschlag aus.

Es geht voran - auch wenn immer weniger Trabis auf ostdeutschen Straßen fahren. (Foto: Foto: dpa)

Bitterfeld wurde in der Wende-Zeit zum Synonym für die Malaise des Ostens: ökologisch ein Notstandsgebiet, wirtschaftlich am Boden, chronisch depressiv. Die Diagnose war nicht einmal übertrieben.

Um so mehr imponiert das hart erarbeitete Wunder, das sich seither ereignet hat. Nicht nur atmen die Bitterfelder wieder saubere Luft, obwohl weiter, jetzt moderne, Chemiefirmen hier produzieren.

Die Stadt hat sich herausgeputzt; in ehemaligen Tagebaugebieten entsteht eine faszinierende Naturlandschaft. Zwar gibt es bedrückende Arbeitslosigkeit, aber auch hoffnungsvolle Neuanfänge.

Mit dieser zwiespältigen, im Saldo aber positiven Zwischenbilanz eignet Bitterfeld sich wieder als Symbol - jetzt für den aufstrebenden Osten mitsamt allen Schwierigkeiten. Eine ähnliche Entwicklung erleben die meisten Regionen.

Realismus statt Hysterie

So muss eigentlich nicht überraschen, was angesichts früherer Umfragen dennoch verblüfft: Nach Jahren in eher depressiver Stimmung wächst - so eine Kernaussage der Umfrage "Perspektive Deutschland" - die Zufriedenheit im deutschen Osten spürbar. Die Ostdeutschen haben deutlich aufgeholt.

Für den Stimmungsaufschwung gibt es im Kern zwei Erklärungen, die zusammen darauf hindeuten, dass der Aufbau Ost eine neue Phase erreicht, die weniger von Depression und Hysterie, dafür von Realismus geprägt ist.

Dazu gehört die Offenheit, positive Veränderungen zunehmend wahrzunehmen. Dementsprechend hat sich die Stimmung gerade in solchen Regionen besonders stark gebessert, wo Investitionen tatsächlich einen Aufschwung auslösen. Die Region um Dessau samt Bitterfeld zählt dazu, auch Leipzig oder Dresden.

Nicht minder wichtig ist die zweite Erklärung: Die Ostdeutschen haben offenbar ihre Erwartungen stärker als bisher der Realität angepasst. Dies müsste man nur beklagen, wenn deshalb statt Tatkraft Defätismus einsetzte. Doch die Studie vermeldet steigende Zuversicht - und damit den Abschied von überzogenen Erwartungen im Osten.

Zwar war das Gerede vom Jammer-Ossi aus westdeutscher Perspektive immer ein Zerrbild. Die meisten Ostdeutschen nahmen die radikalen Veränderungen in ihrem Leben imponierend kraftvoll an. Dennoch war der Moll-Ton, der die öffentliche Debatte dominierte, der Entwicklung hinderlich.

Krisenregion Westdeutschland

Zu oft verglich man sich mit dem, was man für den goldenen Westen hielt. Zu größerem Realismus dürfte nun beitragen, dass der Westen inzwischen auch als Krisenregion wahrgenommen wird. Aber der Stimmungsumschwung spiegelt auch wieder, dass die Politik im Osten sich davon verabschiedet hat, unhaltbare Fürsorgeversprechen zu machen.

Statt über blühende Landschaften wird über Haushaltsnöte und die Mühen der Ebene gesprochen - und die Notwendigkeit, sich auf eigene Stärken zu besinnen. Wenn sich im Osten dennoch die Stimmung bessert, bringt das der deutschen Politik eine wichtige Erkenntnis: Sie muss sich kein neues Volk suchen, weil dieses zu verwöhnt, zu anspruchsvoll, zu wenig reformbereit wäre.

Vielmehr belegen weitere Kernaussagen der Studie, dass die Bürger nicht ein Teil des Problems sind, sondern Teil der Lösung sein können - auch wenn die Zufriedenheit angesichts der Wirtschaftslage gesamtdeutsch verständlicherweise bröckelt. So zeigt sich die Mehrheit in West und Ost offen für Reformen und ist, eingeschränkt, zu Opfern bereit.

Die Menschen seien doch eigentlich ganz vernünftig, befand Alt-Bundespräsident Richard von Weizsäcker, als er die Studie vorstellte. Sein Fazit konnte wie eine Aufforderung an die Politik verstanden werden, etwas damit anzufangen.

© SZ vom 28.4.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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