Sie spielt nicht im Stall zu Bethlehem, sondern in einer Baracke zu Auschwitz. Dort sitzen die übrig gebliebenen Mitglieder eines Rabbinatsgerichts und machen ihrem Gott den Prozess. Sie sitzen zu Gericht über ihn wegen des Blutbades unter seinen Kindern, sie erheben Anklage gegen ihn wegen Feindseligkeit, Grausamkeit und Gleichgültigkeit.
Im Morgengrauen wird das Urteil verkündet: "Wegen der ungeheuerlichen Unterlassungen, die er sich an seinen Kindern hat zuschulden kommen lassen, wird der Heilige, gelobt sei er, mit sofortiger Wirkung aus der Gemeinschaft ausgestoßen."
Wenn Menschen verzweifeln
Wer hat hier gefrevelt, die Ankläger oder der Angeklagte? Warum lässt Gott, wenn er denn existiert, Vernichtung und Ausrottung zu? Warum fällt er dem Bösen nicht in den Arm? Es ist eine Frage, die sich durch die Menschheitsgeschichte zieht - die Frage, mit der sich Luther, Leibniz und Kant gequält haben.
Der Prophet Jesajas zitiert diesen Gott so: "Ich bilde das Licht und schaffe die Finsternis, ich wirke Heil und schaffe Unheil." Dieses Selbstbekenntnis lässt wenig Raum für die Verteidigung Gottes. Wo ist die göttliche Güte, Gerechtigkeit, Allmacht? Wo ist sie in den israelischen Cafés, in denen sich Selbstmörder in die Luft sprengen, wo in den Dörfern Afghanistans und den Wohnsiedlungen des Irak, auf die die amerikanischen Bomben fallen, wo in den Folterkellern der Diktatoren? Wo ist sie, wenn Menschen an dem Leid verzweifeln, das über sie kommt?
Auf der Suche nach Antwort stößt man auf die Varianten, die Epikur vor über 2000 Jahren entwickelt hat: "Entweder will Gott die Übel beseitigen und er kann es nicht, oder er kann es nicht und will es nicht, oder er kann es und will es. Wenn er es nun will und nicht kann, so ist er schwach, was auf Gott nicht zutrifft. Wenn er kann und nicht will, so ist er missgünstig, was Gott fremd ist. Wenn er nicht will und nicht kann, dann ist er sowohl missgünstig wie auch schwach und dann auch nicht Gott. Wenn er aber will und kann, was allein für Gott sich ziemt: Woher kommen dann die Übel, warum nimmt er sie nicht weg?"
In ein paar Tagen werden die JahresRückblicke erscheinen. Man wird darin die fast schon wieder vergessenen Katastrophen finden, die Terroranschläge und Flugzeugabstürze, die Toten in Tschetschenien, Irak und Israel, die Verirrungen der Politik, die verbrannten Astronauten, erschossenen Ministerpräsidenten, die in Bussen verunglückten Touristen, die Kriegsbilanz der USA und einen Hinweis auf die drei Millionen, die im Jahr des Herrn 2003 an Aids verreckt sind.
Vom herrlichen Regieren nicht die Rede
Ein Hinweis auf Gott, der, wie das Kirchenlied meint, "alles so herrlich regieret", wird fehlen, unter anderem deshalb, weil auch so ein Rückblick zeigt, dass von herrlichem Regieren nicht die Rede sein kann. Man hat sich heute zwar nicht an Sonnen- und Mondfinsternisse gewöhnt, sehr wohl aber an die Gottesfinsternis.
Auch die glühendsten Verfechter eines Gottesbezugs in der EU-Verfassung tun sich schwer mit der Erklärung, was dieser Gott eigentlich macht. Sie tun sich so schwer wie der Pfarrer bei einer Beerdigung, wenn er sagt, dass "Gott unseren Bruder abberufen hat", obwohl er weiß, dass es nicht Gott, sondern ein besoffener Autofahrer war.
Die Gewissheit, dass das schon alles seinen Sinn hat, wie sie der Dichter Paul Gerhardt hatte, ist verloren gegangen Angesichts der Trümmer seines im Dreißigjährigen Krieg niedergebrannten Hauses hatte der sich hingesetzt und das Lied geschrieben: "Die güldene Sonne / bringt Freud und Wonne."
Sein Kollege Wolfgang Borchert hatte 300 Jahre später diese Glaubensgewissheit nicht mehr. Er fragte im Namen seiner Generation, die aus dem Hitler-Krieg in die zertrümmerte Heimat zurückkam: "Wann bist Du eigentlich lieb, lieber Gott? Warst Du lieb, als Du meinen Jungen, der gerade ein Jahr alt war, als Du meinen Jungen von einer brüllenden Bombe zerreißen ließest? "
Wann ist er eigentlich lieb, der liebe Gott? Offensichtlich an Weihnachten. Da ist er das liebe Christkind, da ist er klein, unkompliziert, unschuldig, possierlich. Da ist er Kind, Gott in nuce sozusagen, entwicklungsfähig, aber noch nicht strafmündig. Dieses Kind kann man also nicht anklagen, nicht haftbar machen, man kann es nur anhimmeln - und die Probleme, die man mit dem großen Gott hat, hat man mit dem kleinen in der Krippe nicht.
Die dunklen Seiten Gottes (so der Titel eines tiefgründigen zweibändigen Werkes der Theologieprofessoren Walter Dietrich und Christian Link) sind bei dem Kind in der Krippe noch nicht sichtbar. Man kann ihm deshalb alles anhängen, was man für schön hält: Lametta, Kugeln, Weihnachtswünsche.
Der große Gott ist ein schwieriger Gott, ein oft zorniger, rächender, grausamer. An ungefähr tausend Stellen des Alten Testaments ist davon die Rede, das der Zorn Jahwes entbrennt, dass er wie ein fressendes Feuer Gericht hält und mit Vernichtung droht. Und wenn man Psalmen liest, dann schaudert es einen. "Der Gerechte wird seine Füße baden in der Gottlosen Blut", heißt es da, und: "Wohl dem, der Dir vergilt, was du uns getan! Wohl dem, der deine Kindlein packt und am Felsen zerschmettert!"
Wenn man heute solche Texte einem unbefangenen Amerikaner vorlegt, er würde darauf tippen, einen Text von Bin Laden vor sich zu haben. Und dann wieder Gebote von so hohem Anspruch, dass der Mensch darunter zerbricht: "Liebe deine Feinde!"
Die Rachepsalmen, die Rachephantasien, so sagen es die Theologen, sind ein Aufschrei der Unterdrückten: Ein Gott, auf dem man Rachegefühle abladen darf, sei ja auch menschlicher als der, der Feindesliebe verlangt. Das Gottesbild der Bibel ist so schillernd wie die Realität des "Friedens auf Erden".
Schreckliche Größe
Es verlangt von dem, der an Gott glaubt, entweder ungeheuere Naivität oder ein ungeheueres Ringen - so wie im Abschiedsbrief des Jossel Rakover im Warschauer Ghetto: "Ich kann dich nicht loben für die Taten, die Du duldest. Ich segne und lobe Dich für Deine schreckliche Größe. Wie gewaltig muss Deine Größe sein, wenn sogar das, was jetzt geschieht, auf Dich keinen entscheidenden Eindruck macht."
Das Aufbegehren gegen Gott ist ein menschliches Begehren. Das Aufbegehren gegen menschenverachtende Politik und gegen frivole Profitgier ist ein weihnachtliches. Weihnachten ist das Fest, in dem sich Gott klein macht, auf dass die Menschen verstehen, dass sie das Überwinden der von ihnen angerichteten Katastrophen nicht Gott dem Herrn überlassen können.
So gesehen ist Weihnachten gar nicht so possierlich. Es verlangt ziemlich viel: orare et laborare - beten und arbeiten an einer besseren Welt. Die eingangs zitierte Aufzeichnung vom Prozess gegen Gott in der Baracke von Auschwitz endet so: Es war zunächst, als hielte der Kosmos den Atem an. "Kommt", seufzte dann schließlich der Rabbi, "jetzt gehen wir beten".