Kommentar:Spekulatius aus Berlin

Lesezeit: 3 min

Hysterie in der Hauptstadt: Die Gerüchte verändern ihren Aggregatzustand, weil nichts sie aufhält.

Von Heribert Prantl

Viele politische Nachrichten aus Berlin entstehen derzeit so ähnlich, wie Tucholsky das 1928 unter dem Titel "Familienquatsch" beschrieben hat.

Also: Da hat Kurt zu Franz gesagt, er habe nie zu Heinz-Werner gesagt, dass Gerd ihm nichts gesagt hat! Wie finnste das? Na, ist doch ganz klar, woher soll er denn das wissen? Nein? - Nein! Wenn du zu Ludwig nicht gesagt hättest, dass ich es dir gesagt habe, dann hätten doch die in der Zeitung nicht schreiben können, dass das so bei der Sitzung des SPD-Parteivorstandes besprochen worden ist...

Verwirrend? Ja. Im Berlin des Kanzlers Gerhard Schröder vor der Vertrauensfrage ist es so, dass Nachrichten auch aus dem Nichts oder nahezu aus dem Nichts geboren und sodann als Sensation vermeldet werden.

Creatio ex nihilo nennen die Theologen so etwas. Theologie? Die Spekulationen über das Ende der Regierung Schröder sind in der Tat von einer Art, dass sich die Lehren der Religionen über das Ende der Welt als vergleichsweise faktengestützt darstellen.

Seit zwei Wochen, seit der Wahl in Nordrhein-Westfalen, jagt ein Szenario das nächste: Die Grünen ziehen ihre Minister ab, hieß es erst; die Minister der Grünen werden von Schröder aus dem Kabinett geworfen, hieß es dann.

Von großer Kabinettsumbildung war die Rede, von einem Rücktritt Clements, von seiner Entlassung, von einem Rücktritt des Kanzlers auch, von seiner Auswechslung durch Müntefering sodann.

Lust am finalen Krakeel

Schließlich stand auch Müntefering selber zur Disposition, um angeblich demnächst ganz und gar vom Rheinland-Pfälzer Kurt Beck abgelöst zu werden.

Das ist so richtig oder falsch wie die Meldung, die womöglich heute aus angeblich gut unterrichteten Kreisen kolportiert werden wird: Dass nämlich Otto Schily als Innenminister in einem Kabinett Merkel vorgesehen sei.

Derlei Kopfgeburten werden dem "nervösen Klima" in Berlin zugeschrieben - das allerdings von denen mitproduziert wird, die es beschreiben und beklagen. Die "brodelnde Gerüchteküche" besteht aus denen, die dort selbst die Gerüchte kochen, um sie dann spektakulär zu kredenzen.

Selten war es so leicht, Exklusives aus der Hauptstadt zu vermelden wie heute. Aus drei Gesprächen von der Art "Können Sie ausschließen, dass...?" entsteht ein neues Szenario. Kurz: Im politisch-journalistischen Komplex herrscht Lust am finalen Krakeel.

Wer hat Schuld? Zu allererst der Bundeskanzler. Wo Information fehlt, wachsen die Gerüchte. Und wo Chaos herrscht, werden aus Gerüchten Gestalten. Wo an Regierungskraft nichts mehr vorhanden ist, hat der Kanzler sein Recht verloren.

Jeder will alles glauben

Mittlerweile ist es deshalb so, dass jeder alles zu glauben bereit ist. Auf dem Berliner Acker gedeiht die Absurdität. In begrenztem Umfang mag das Gewaber im Sinn Schröders sein, da auf diese Weise womöglich erst die Voraussetzungen geschaffen werden, die dann in drei Wochen die Vertrauensfrage rechtfertigen können.

Selbstproduzierte Fluchtgründe oder auch Nachfluchtgründe nennt man das im Asylrecht; dort werden sie allerdings nicht anerkannt.

Der Kanzler hat sich verspekuliert: Er hat bei der Ankündigung der Vertrauensfrage nicht damit gerechnet, dass die Spekulationen außer Kontrolle geraten. Er hat kalkuliert, dass man ihm die Neuwahlen als mutigen Schritt honoriert.

Er hat nicht damit gerechnet, dass in Deutschland auf breiter Front, bemerkenswert uniform und hysterisch mit Rot-Grün abgerechnet, dass kein gutes Haar an dieser Regierung gelassen wird. Er hat auch nicht damit gerechnet, dass die Ankündigung der Vertrauensfrage der Auftakt zur großen öffentlichen Retusche des bisherigen Merkel-Bildes werden wird.

Schröder ist ein Taktiker, aber kein Stratege: Er ist zwar mit der Neuwahl-Ankündigung aus der belagerten Festung ausgebrochen; seit diesem Ausbruch aber steht er ungeschützt vor den feindlichen Linien - und weiß nicht, wie seine Offensive weitergehen soll.

Weil man das allenthalben merkt, denken sich alle möglichen Beobachter alles Mögliche aus, und garnieren das mit viel Häme. Womöglich gehört ja sogar ein Rückzug hinter die halbwegs sicheren Mauern der normalen Legislaturperiode zu den Optionen.

Die SPD könnte dann erstens darauf warten, dass Streit ausbricht im Lager der Belagerer. Zweitens würde vielleicht der Glanz der von der Union eilig gekürten Kanzlerkandidatin verblassen. Und drittens könnte sich beim Wähler mit Blick auf das Merkel-Programm die Erkenntnis einstellen, dass kein altes Übel so groß ist, als dass es nicht von einem neuen übertroffen werden könnte.

Wenn Schröder glaubt, er könne viele Wochen lang die Details der Vertrauensfrage wie ein Staatsgeheimnis hüten (warum eigentlich?), irrt er sich. Die so geweckten Spekulationen fressen seine Regierung auf und zermürben die Sozialdemokratie.

Die Aufgabe, das Gefüge Müntefering/Fischer/Schröder in Ordnung zu halten, gerät zur Quadratur des Dreiecks. Gerüchte verändern, wenn nichts sie aufhält, ihren Aggregatzustand; sie werden immer fester. Und beim Publikum wird ein fataler Eindruck zur Gewissheit: Wer nicht einmal die angekündigte Neuwahl hinkriegt, kann auch das Land nicht weiterregieren.

© SZ vom 9.6.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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