Kommentar:Schule der Gewalt

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Niemand hat etwas gesehen, niemand die Lehrer informiert oder die Polizei gerufen, Dutzende von Schülern schiegen aus Angst, Scham oder Gleichgültigkeit. Über deutschen Schulen liegt eine Atmosphäre der latenten Gewalttätigkeit.

Von Cathrin Kahlweit

"Törleß unterschied aus den Geräuschen, dass sie Basini die Kleider vom Leibe zogen und ihn mit etwas Dünnem, Geschmeidigem peitschten." Der Internatsschüler hört im Dunkeln das Wimmern und die halblauten Klagerufe des gefolterten Mitschülers sowie die heißen Atemstöße der Folterer; er selbst bleibt im Hintergrund und greift nicht ein.

Robert Musils Roman "Die Verwirrungen des Zöglings Törleß" ist vor 98 Jahren erschienen, doch er schildert mit minutiöser Genauigkeit, was so oder ähnlich auch in der vergangenen Woche in Hildesheim und Walpertskirchen, in Coburg und Hannover geschah: Schüler quälen Schüler, Mitschüler schauen zu.

Eine Atmosphäre der latenten Gewalttätigkeit liegt über dem Internat, in dem der junge Törleß untergebracht ist - ebenso wie über deutschen Schulen des Jahres 2004, in denen niemand etwas sah, niemand die Lehrer informierte oder anonym die Polizei rief, Dutzende von Schülern aus Angst, Scham oder Gleichgültigkeit schwiegen.

Gewalt unter Schülern hat eine neue Qualität

Jeder Erwachsene erinnert sich zwar an Prügeleien auf dem Schulhof in der eigenen Kindheit. Dennoch herrscht allgemein der Eindruck vor, so viele Übergriffe wie derzeit habe es noch nie an deutschen Schulen gegeben. Doch dies ist falsch. Schulpsychologen wie Soziologen legen Beweise dafür vor, dass die Gewalt unter Schülern statistisch nicht einmal zugenommen hat.

Aber der Vergleich zur Geschichte vom jungen Törleß, in der Gewalt in der räumlichen Isolation entstand, zeigt, dass sich eben doch etwas geändert hat. Die Intensität der Quälereien besitzt nämlich eine neue Qualität.

Wenn die Gewalt an den Schulen nicht gestiegen ist, so nimmt doch die Brutalität der Taten zu, und die Dunkelziffer ist hoch. Gewalt unter Jugendlichen entsteht jetzt vor allem in der sozialen Isolation. Genau das belegen die Fälle, die jüngst bekannt wurden und die ausschnitthaft erkennen lassen: Diese besonders gemeinen Taten geschahen vorwiegend in einem Milieu der Armut und Chancenlosigkeit.

Auch an den Gymnasien in den Vorstädten der Reichen gibt es Mobbing, aber es ist vielfach auf perfide Weise subtiler, die soziale Kontrolle ist größer, Eltern sind aufmerksamer, der Firnis der Moral noch etwas dicker.

Nein, es sind vor allem gedemütigte, chancenlose Schulversager, die ihre eigene Ohnmachtserfahrungen weitergeben, häufig sind es Migrantenkinder aus sozial schwachen Familien, Jugendliche, die selbst zu Hause Gewalt erfahren - und genau hier liegt auch das Problem: Diese Jugendlichen haben keine Lobby, und durch ihr kriminelles Verhalten machen sie sich nur umso mehr zu Außenseitern.

Das soll die Täter nicht entschuldigen. Aber bei alledem geht es gar nicht im engeren Sinne um Gewalt in der Schule. An manchen Schulen wird nur auf brutale Weise offenkundig, was gern ignoriert wird: die gescheiterte Integration von Heranwachsenden, die aus dem gesellschaftlichen Gefüge herausgefallen sind.

Handeln nach den Mustern des Marktes

Das belegen auch die Videos und CD-Roms, die bei den Tätern in Hildesheim und Walpertskirchen gefunden wurden: Weil sie keine Chance auf Beruf, Ansehen und Geld haben, quälen sie vor laufenden Kameras Mitschüler, um die Bilder zu verkaufen.

Sie handeln also nach den Mustern des Marktes, der sie ausgrenzt, und sie handeln gemäß den Gesetzen der einzigen Welt, in der sie sich zu Hause fühlen: der Welt der Medien. Bis zu sechs Stunden schauen Schüler von Berufsvorbereitungsjahren fern, das hat eine Untersuchung ergeben - jene jungen Männer also, die in der Schule gescheitert sind und sich nichts mehr erhoffen.

Die Schulen aber werden mit ihren Problemen allein gelassen, sie sollen Streitschlichter trainieren und Zivilcourage einüben, und die Lehrer sollen mehr hinschauen. Ein paar Schüler werden vielleicht der Schule verwiesen, Eltern an ihre Verantwortung erinnert. Politiker fordern die Einweisung von jugendlichen Gewalttätern in geschlossene Heime.

Ein Gesamtkonzept muss her

Es reicht aber nicht, Lampen in dunklen Schulfluren aufzuhängen und mit Kameras Schulhöfe zu kontrollieren. Ein Gesamtkonzept muss her, das mit genauso viel Verve vertreten und verkauft wird wie Elite-Universitäten und Begabtenförderung: Man könnte Migrantenkinder nach einem gerechten Schlüssel auf Kindergärten verteilen, weil das die Integrationschancen erhöht.

Kinder müssen lernen, dass auch ein Leben mit wenig Fernsehen Spaß machen kann. Der Einsatz mehrerer Lehrkräfte darf nicht integrierten Klassen mit behinderten Kindern vorbehalten bleiben. Stadtviertel mit einer hohen Zahl von Analphabeten und Schulabbrechern brauchen mehr Jugendzentren, Streetworker, Jobcenter.

Ein nicht finanzierbarer Traum von einer gerechteren Welt? Die SPD diskutiert derzeit über Korrekturen am Reformkurs und die Wiederbelebung ihres Images als einer Partei der sozialen Gerechtigkeit. Hier wäre mal ein lohnenswertes Projekt für die nächsten Jahre: mehr für die Chancenlosen, die Schwachen zu tun - denn das sind, so absurd es klingt, genau diejenigen, die am härtesten zuschlagen.

Eine Gesellschaft, die diesen Teil einer Generation verloren gibt, handelt sich ein Problem ein, das mit doppelter und dreifacher Gewalt zurückkommen wird. Und das sich über kurz oder lang nicht nur in einigen Schulen oder Problemkiezen Bahn bricht.

© SZ vom 12.2.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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