Kommentar:Ratloses Frankreich

Frankreich erlebt eine der größten Krisen der Fünften Republik. Allenfalls die Ereignisse vom Mai 1968, die damals Charles de Gaulle entscheidend geschwächt haben, sind mit dem Aufruhr in den französischen Vorstädten zu vergleichen. Aber bei den jetzigen Unruhen gibt es keine klaren Fronten.

Gerd Kröncke

Die randalierenden Jugendlichen, die nächtens durch die Viertel ziehen, die das Auto ihrer Nachbarn, das Hab und Gut fremder Leute, den Betrieb nebenan und ihre eigene Zukunft niederbrennen, haben keine Ideologie. Ihre Wut richtet sich diffus gegen die anderen. Gegen die, die es zu etw as gebracht haben, und die, von denen sie glauben, dass sie ihnen jede Chance verweigern.

Sarkozy polarisiert wie kein anderer

Und doch hat der Hass ein Ziel. Selten war der Bekanntheitsgrad eines Politikers bei Menschen, die sich um Politik nicht kümmern, so hoch wie der von Nicolas Sarkozy. Der Innenminister verkörpert für sie das Übel, weil er die, die mit Steinen werfen, "Strolche" und "Gesindel" genannt hat.

Nun werfen sie nicht nur Steine, sondern Brandbomben. Der Tod der beiden Jungen in Clichy-sous-Bois hat die Unruhen ausgelöst. Inzwischen braucht es keinen Vorwand mehr.

Für Sarkozy, der nichts bereut, steht die eigene Zukunft auf dem Spiel. Wird er, wenn die Krise vorbei ist, noch der aussichtsreichste Kandidat für die Nachfolge Jacques Chiracs sein? Schon werden erste Rücktrittsforderungen laut.

Aber Präsident Chirac kann seinen Innenminister nicht dem Mob opfern. Stattdessen muss er selbst die Initiative ergreifen. Am Sonntagabend hat sich Chirac erstmals nach zehn Tagen öffentlich erklärt. Ob er die Wogen glätten kann, ob seine Autorität ausreichen wird, ist zweifelhaft. Die Republik ist ratlos.

© SZ vom 7.11.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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