Kommentar:Putins schwache Festung

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Die westlichen Demokratien müssen Fragen zu Beslan stellen, ob das dem russischen Präsidenten passt oder nicht. Der hält es für unsolidarisch, Russland ausgerechnet in diesem Augenblick an seine Fehler im Tschetschenien-Konflikt zu erinnern - doch damit irrt er.

Von Daniel Brössler

Wladimir Putin ist zornig auf den Westen. Seiner Ansicht nach hat Russland nach der Katastrophe von Beslan nicht jene Solidarität erfahren, die es verdient. Die Wut des Präsidenten verrät viel über sein widersprüchliches Verhältnis zu den westlichen Demokratien. Und sie zeigt, wie wenig die Verbrüderungspolitik von Bundeskanzler Gerhard Schröder und anderen Staatsführern bisher zum gegenseitigen Verständnis beigetragen hat.

Trauernde entzünden Kerzen vor der Schule in Beslan. (Foto: Foto: Reuters)

Natürlich hat Russland nach dem Blutbad in Nordossetien Anspruch auf Solidarität und Mitgefühl. Für Menschen in Deutschland und weltweit ist das selbstverständlich, das zeigen auch die Hilfsaktionen, die bereits angelaufen sind. Wäre das südrussische Städtchen Beslan von einem Erdbeben oder einer Überschwemmung heimgesucht worden, würden sich weitere Fragen erübrigen. Weil es aber eben keine Naturkatastrophe war, die in der Schule Nummer 1 massenhaft getötet hat, darf es auch keine kritiklose Solidarität geben. Es müssen Fragen gestellt werden - ob Wladimir Putin das passt oder nicht.

Nicht dem Rest der Welt den Mund verbieten

Besonders unduldsam reagiert der Präsident auf diese Fragen, wenn sie der Vorgeschichte der Katastrophe von Beslan gelten. Putin hält es für unsolidarisch, Russland ausgerechnet in diesem Augenblick an seine Fehler im Tschetschenien-Konflikt zu erinnern - und damit irrt er.

Nichts gibt dem Kremlchef angesichts des tödlichen Scheiterns seiner Kaukasus-Politik das Recht, dem Rest der Welt den Mund zu verbieten. Wer eine der Ursachen für die Kette der Gewalt benennt, rechtfertigt damit nicht die Gewalttäter. Das monströse Verbrechen der Geiselgangster von Beslan ist ohnehin durch nichts zu rechtfertigen. Sie haben 1200Menschen drei Tage lang hungern und dursten lassen. Sie haben auf kleine Kinder gezielt und ihnen in den Rücken geschossen. Sie - und vor allem auch ihre Hintermänner - haben die Gemeinschaft der zivilisierten Menschheit verlassen.

Es nützt aber gar nichts und wäre heuchlerisch, nur diese Seite der Geschichte zu beklagen. Denn auf der anderen Seite lässt Putin seit fünf Jahren im Kaukasus einen brutalen Krieg führen, den er nicht gewinnen kann. Der Kremlchef kann Tschetschenien mit militärischer Gewalt nicht unter völlige Kontrolle zwingen.

Putin braucht andere Optionen, nicht nur militärische

In den nächsten Wochen und Monaten werden bei Einsätzen russischer Soldaten wohl viele tschetschenische Männer sterben oder verschwinden. Das aber produziert keine Sicherheit, sondern nur neue Kämpfer und Selbstmordattentäterinnen. Es geht nicht darum, dem Terror nachzugeben, sondern um eine realistische Lage-Einschätzung. Neben den militärischen braucht Putin andere Optionen.

Es ist zu befürchten, dass dem einstigen KGB-Mann dafür der Wille fehlt, und vor allem die Fantasie.

Nicht erst seit Beslan rennt Wladimir Putin durch einen Teufelskreis: Er will den Staat stärken und schwächt zugleich den Glauben an ihn. Das zeigte sich auch beim Krisenmanagement während der Geiselnahme. Es wäre die gemeinsame Aufgabe von Regierung und Sicherheitskräften gewesen, so viele Menschenleben wie möglich zu retten.

Unerhörter Zynismus des Geheimdienstes

Weit mehr als jede vierte der 1200 Geiseln aber ist am tiefschwarzen Freitag von Beslan ums Leben gekommen. In Anbetracht dieser vielen Toten ist es unerhörter Zynismus, wenn der von Putin gehätschelte russische Geheimdienst die Befreiungsaktion als Erfolg bezeichnet.

Es trifft zwar zu, dass es am Freitag keinen geplanten, organisierten Sturm auf die Schule gab, in der sich mehr als 30 schwer bewaffnete Geiselnehmer mit ihren Opfern verschanzt hatten. Angesichts vieler Ungereimtheiten ist dies eine der wenigen Tatsachen, die als nahezu gesichert gelten.

Die russischen Behörden enthebt das aber nicht ihrer Verantwortung. Denn es spricht vieles dafür, dass erst durch entsetzliche Schlamperei die Situation in Beslan außer Kontrolle geriet.

Noch am dritten Tag der Geiselnahme war der Tatort unzureichend abgeriegelt. Niemand hinderte bewaffnete Bürger der Stadt daran, sich der Schule zu nähern. Es ist gut möglich, dass jemand aus den Reihen dieser Bürgerwehr die Katastrophe mit einem Schuss ausgelöst hat. Sicher jedenfalls haben die bewaffneten Zivilisten die Arbeit der Profis während der Befreiungsaktion stark behindert.

An Aufklärung nicht interessiert

Allein schon dieser Skandal verlangt öffentliche Aufklärung. An ihr aber ist Putin nicht interessiert: Trauer und Wut der Menschen sollen sich gegen den internationalen Terrorismus richten, nicht gegen die eigene Führung. Auch deshalb holt Russland zumindest rhetorisch aus zum Schlag gegen den globalen Terrorismus.

Zwar gestand der Präsident in einer Rede an die Nation auch ein, dass Russland seine Bürger zu Hause effektiver schützen müsse. Weitere Einzelheiten aber gehen diese Bürger im Obrigkeits-Russland aus Sicht des Kremls nichts an; sie sollen sich Putin und seinen Freunden vom Geheimdienst anvertrauen.

So drohen die Fehler der Behörden in Beslan und der wirkliche Anteil internationaler Terror-Netzwerke an der Geiselnahme in einem Nebel aus falschen oder unvollständigen Informationen zu verschwimmen. Putin aber sollte gewarnt sein. Auf Dauer stärkt die Lüge einen Staat nicht, sie schwächt ihn.

© SZ vom 9.9.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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