Kommentar:Putins Reich

Lesezeit: 3 min

Russlands Präsident greift schamlos in der Ukraine ein und zeigt so sein Hegemonialstreben.

Von Frank Nienhuysen

Es gab einmal eine Epoche, als die Ukrainer etwas despektierlich Kleinrussen genannt wurden. Der Begriff erlebte seine Blütezeit im 19. Jahrhundert, doch man könnte meinen, seine Wiedergeburt stünde kurz bevor.

Muss man vor Putins Hegemonialstreben Angst bekommen? (Foto: Foto: Reuters)

Ausgerechnet Viktor Janukowitsch, ein unscheinbarer ukrainischer Apparatschik, soll nun als Präsident das zerrissene slawische Land aus der Krise führen - ein Protegé des scheidenden Amtsinhabers Leonid Kutschma, der aber auf einen weiteren Helfer zählen konnte, einen vielleicht noch gewichtigeren: Kremlchef Wladimir Putin. Janukowitsch also ein Kleinrusse, der letztlich auf den Schild gehoben wird dank des mächtigen Großrussen Putin?

Noch muss man abwarten, ob der anschwellende innen- und außenpolitische Druck nicht doch noch zu einer Revision der umstrittenen Wahlresultate führt. Fest steht: Niemals zuvor hat der russische Präsident derart ungeniert Partei ergriffen in einem laufenden Wahlkampf, als er gleich zwei Mal im Nachbarstaat auftauchte.

Anderer Wertekanon

Schlechte Sitten sind das, und doch noch vieles mehr: In einer für die Ukraine bedeutsamen Phase, an der Weggabelung zwischen Ost und West, da entblößt der russische Staatschef wieder einmal ein Demokratieverständnis, das nur schwer kompatibel ist mit dem Wertekanon des Westens.

Putin hätte sich angesichts der spannungsgeladenen Atmosphäre in der Ukraine und der schweren Manipulationsvorwürfe der OSZE bedeckt halten und erst das offizielle Wahlergebnis abwarten können. Stattdessen gratulierte er Janukowitsch für dessen "überzeugenden Sieg". Die Schlacht sei hart umkämpft gewesen, aber offen und ehrlich.

Offen und ehrlich? Vielleicht ist es gut, dass sich Putin offen und ehrlich zu seiner eigenwilligen Position bekannt hat, so kurz vor dem Gipfeltreffen zwischen der Europäischen Union und Russland am morgigen Donnerstag.

Sonderrolle gefordert

In Den Haag nämlich geht es diesmal darum, ein höchst kompliziertes Beziehungsgeflecht neu zu bestimmen, und da ist es hilfreich, wenn Stärken und Schwächen deutlich erkennbar sind.

Moskau fordert seit langem eine strategische Partnerschaft, eine Sonderrolle im Verhältnis zur Brüsseler Staatengemeinschaft. Und es reagiert gereizt wie ein hungriger Bär, wenn sich diese ziert und Russland lediglich einreiht in das Programm der "neuen Nachbarschaft".

Zweifellos ist Russland für den Westen ein bedeutender Partner. Sein Reservoir an Rohstoffen ist gewaltig, der russische Markt birgt langfristig enorme Perspektiven.

Moskaus Veto-Recht im UN-Sicherheitsrat stellt nach wie vor einen Machtfaktor dar, und kulturell ist das Land eine Schatztruhe. All das rechtfertigt möglichst gute Beziehungen. Aber: Nur so gut dies eben geht.

Das Beispiel Ukraine zeigt, wo die Grenzen liegen. Russland will das Land nicht aus seinem Einflussbereich entlassen, es ist nicht bereit, den Mehrheitswillen der Ukrainer zu akzeptieren.

Rücksichtsloses Durchsetzen der eigenen Interessen

Oberstes Gebot für die russische Außenpolitik ist die rücksichtslose Wahrnehmung nationaler Interessen, das Streben, Russland mit aller Macht in die politische Weltspitze zurückzuführen - mit möglichst vielen früheren Sowjetrepubliken in seinem Schweif.

All das mag ja ein legitimes Ziel sein, und die Regeln harter Machtpolitik gelten ebenso gut in anderen Staaten. Dennoch gibt es einen großen Unterschied, den der Westen Moskau stets vorhalten sollte: Während die westliche Gemeinschaft einen Grundkonsens pflegt in der Achtung von Demokratie, Marktwirtschaft und Menschenrechten, werden diese Werte in Russland nach Herzenslust des Kremls verschoben.

Da wird die Opposition weitgehend ausgeschaltet und eine Phalanx von Geheimdienstlern in der Spitze von Wirtschaft und Politik etabliert. Dazu kommt der Umgang mit dem Ölkonzern Yukos, die Lage in Tschetschenien - all dies sind bekannte Synonyme für das Herrschaftsverständnis Moskaus.

Den russischen Präsidenten einen "lupenreinen Demokraten" zu nennen, wie dies Bundeskanzler Gerhard Schröder gerade tat, wirkt da fast schon tragikomisch.

Geben wie nehmen

Wenn Putin sich eine Sonderrolle verdienen will, muss er seine Eigenschaft ablegen, stets mehr zu wollen, als er zu geben bereit ist. Und er muss internationale Standards anwenden, die für den Westen Conditio sine qua non sein sollten - da darf sich die EU von Moskau nicht einwickeln lassen.

Erst kürzlich sagte der russische Außenminister Sergej Lawrow, sein Land wolle die Menschenrechte respektieren, und feuerte zugleich mit Giftpfeilen auf "europäische Staaten", die es vermeintlichen Terroristen erlaubten, ihre Ansichten frei zu äußern.

Eine Lehre aus den Ereignissen in der Ukraine sollte Putin zumindest ziehen. Seine in Russland installierte "gelenkte Demokratie" scheint in der Bevölkerung anderer Staaten nicht begehrenswert zu sein. Doch wer als Hegemon allenfalls dann taugt, wenn er wirtschaftliche und militärpolitische Hebel in Gang setzt, der sollte seine Ziele anders definieren.

Ein liberales, offenes Russland könnte in der östlichen Hemisphäre vielleicht einmal mehr Staaten um sich scharen als ein autoritäres Russland. Und der Westen hätte dann keinen Grund mehr für sein Misstrauen.

© SZ vom 24.11.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: