Kommentar:Neustart als Therapie

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Die Wahl in der Ukraine muss wiederholt werden. Sonst werden die Gräben zwischen den Lagern zu tief und die Aussicht auf eine friedliche Zukunft schwindet.

Von Frank Nienhuysen

Er glaubte, alle Trümpfe in seiner Hand zu haben: die Hilfe von Präsident Leonid Kutschma, die Unterstützung der östlichen Oligarchenclans, die schützende Hand von Kremlchef Wladimir Putin. Inzwischen aber ist Ministerpräsident Viktor Janukowitsch ein weitgehend verlassener Mann, ohne Aussicht, den Machtkampf um das ukrainische Präsidentenamt noch gewinnen zu können.

Selbst sein eigener Wahlkampfchef ging ihm am Montag von der Fahne, ein politischer Akt von symbolischer Tragweite. Fast alle maßgeblichen Kräfte haben sich zuletzt für eine Wiederholung der Wahl ausgesprochen, und was dies bedeuten würde für Janukowitsch, das scheint er selber bestens zu wissen.

Nur so sind seine verzweifelten Worte zu verstehen, den Osten des Landes aus dem slawischen Großstaat herauszulösen. Doch die Drohung wirkte wie der trotzige Versuch eines Taumelnden, ein letztes Mal seine Kraft zu demonstrieren.

Das Volksfest der Revolution

In der Hauptstadt Kiew, immerhin Sitz des amtierenden Ministerpräsidenten Janukowitsch, hat eben dieser Janukowitsch nicht die geringste Strahlkraft. Er lässt sich nicht einmal blicken auf dem Volksfest der Revolution.

Ein Präsidentschaftsanwärter aber, der das eigene Volk fürchten muss, hat jede Legitimation eingebüßt. Er empfiehlt sich nicht mehr für das höchste Amt im Staate - ganz gleich, wie das Oberste Gericht entscheiden wird.

Janukowitsch, dies haben die vergangenen Tage und Wochen gezeigt, ist ein Spalter. Das Land braucht aber jemanden, der eint. Denn tiefe Gräben sind genug ausgehoben worden, nun wird es Zeit für den Neustart in eine friedliche Epoche.

Dieser Start kann nur nach einer Wiederholung der Wahl gelingen, aber nicht nur einer Teilwahl, wie sie Janukowitsch nun vorschwebt. Selbst die russische Regierung scheint langsam ins Grübeln gekommen zu sein, wie sie ihr Gesicht wahren und vielleicht doch noch behutsam von Janukowitsch abrücken kann.

Moskaus Rache

Was aber bedeutet all dies für Viktor Juschtschenko, den Volkstribun? Er muss im Falle eines Erfolgs damit rechnen, die späte Rache Moskaus zu spüren: eine aggressive Energiepolitik, wirtschaftlichen Druck.

Denn an den Strukturen der Ukraine und der engen Verflechtung des Landes mit dem Großnachbarn kann selbst Juschtschenko so schnell nichts ändern, selbst wenn ihm die samtene Revolution tatsächlich gelingen sollte.

Hilfe könnte ihm die Europäische Union gewähren. Sonst träge und vage im Umgang mit Russlands slawischem Nachbarstaat, hat sie diesmal entschieden Flagge gezeigt und zugleich große Hoffnungen genährt.

Diese muss sie nun auch erfüllen. Eine Mitgliedschaft für die Ukraine wird das nicht gleich bedeuten, aber im Interesse beider Seiten wäre eine deutliche Annäherung zwischen Brüssel und Kiew. Es erfordert einen gewissen Schneid, diese Politik Russland beizubringen, denn die Gefahr ist groß, dass Putin grollt.

© SZ vom 30.11.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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