Kommentar:Leitkultur für alle

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Die CDU/CSU hat seit Jahren danach gesucht, aber sie nicht gefunden. Andere haben geleugnet, dass es sie überhaupt gibt oder haben sie, vorschnell, zum Unwort erklärt: Leitkultur. Nun gibt es neue Erkenntnis. Der Anlass ist furchtbar.

Von Heribert Prantl

Leitkultur: Die CDU/CSU hat seit Jahren danach gesucht und sie wohl auch desegen nicht gefunden, weil sie oft in einem eher sumpfigen Gelände herumgelaufen war. Andere haben geleugnet, dass es eine Leitkultur überhaupt gibt oder haben sie, vorschnell, zum Unwort erklärt. Nun gibt es neue Erkenntnis. Der Anlass ist furchtbar.

Der bestialische Mord an Theo van Gogh in Holland hat einerseits gefährliche Hysterien ausgelöst, eine antikoranische Tollwut, er hat antitürkischen und antiarabischen Rassismus angestachelt, eine Debatte ausgelöst, die in erschütternd pauschaler Dummheit den gemeinen Muslim, Araber, Nachbarn zum Sicherheitsrisiko erklärte. Es sind dies die furchtbaren Folgen einer furchtbaren Tat.

Das Verbrechen hat aber auch die Suche nach dem befördert, was eine disparate Gemeinschaft zusammenhalten kann. Die deutsche Debatte über eine Leitkultur wurde von der bisherigen Schwiemeligkeit befreit.

Ergebnis: Es gibt eine Leitkultur, ohne die es keine Zukunft gibt für Deutsche und Ausländer, für Alt- und für Neubürger, Christen und Muslime.

Integration, ein forderndes Wort

Diese Leitkultur hat aber nichts zu tun mit Abendland, Heimatabend, Sauerkraut, nichts mit Gebräuchen und Gipfelkreuzen. Sie hat auch nichts zu tun mit nationalen Überlegenheitsgefühlen oder Deutschtümeleien.

Die Leitkultur ist eine Kultur des Zusammenlebens: Sie heißt Demokratie. Sie heißt Rechtsstaat. Sie heißt Grundrechte. Das klingt simpel. Aber der Alltag zeigt, dass es so simpel nicht ist. Diese Leitkultur fordert viel, nämlich Toleranz von beiden Seiten, von den Alt- und Neubürgern - und führt dann zur Integration.

Toleranz bedeutet mitnichten, dass jeder machen kann, was er will. Toleranz heißt nicht Beliebigkeit, und nicht, dass man für alles Verständnis zu haben hat. Toleranz ist auch kein plakativer Akt, sondern ein Lernprozess. Deshalb hat der Vorschlag des Grünen-Politikers Christian Ströbele, die Muslime in Deutschland mit einem staatlichen Feiertag zu beschenken, mehr geschadet als genützt.

Toleranz ist nichts Schrankenloses. Sie kann nur innerhalb klar definierter Grenzen existieren. Wenn diese Grenzen nicht gesetzt und nicht bewacht werden, wird aus Wohltat Plage. Innerhalb dieser Grenzen gibt es, natürlich, Multikulti - und wer sagt, dass Multikulturalität, Demokratie und Rechtsstaat sich nicht vertrügen, der ist töricht und verzichtet auf eine neue Quelle des Reichtums dieser Gesellschaft.

Bibel, Koran und Leitkultur

Toleranz nimmt niemandem seine Religion, sein Kopftuch, seine Lebensgewohnheiten weg. Toleranz setzt aber voraus, dass die heiligen Bücher, wie immer sie heißen, ob Bibel oder Koran, nicht über oder gegen die Leitkultur gestellt werden. Integration fordert also auch von Muslimen Toleranz - und eine Distanzierung vom Islam als einem zwingend vorgeschriebenen Rechtssystem.

Von diesem Ziel sind Islamisten Lichtjahre, aber auch gemäßigte islamische Organisationen noch ziemlich weit entfernt. In der Islamischen Charta, die der Zentralrat der Muslime 2002 veröffentlicht hat, heißt es vage: "Das islamische Recht verpflichtet Muslime in der Diaspora, sich grundsätzlich an die lokale Rechtsordnung zu halten."

Was bedeutet "grundsätzlich"? Und was bedeutet es, wenn dann weiter ausgeführt wird, dass kein Widerspruch bestünde zwischen der islamischen Lehre und dem "Kernbestand der Menschenrechte"? Was meint "Kernbestand"?

Es kann doch keine Auswahl nach Gusto geben. Wer sich auf Gott und Koran beruft, um sich von den Grund- und Menschenrechten zu dispensieren, ist ein Gegner der demokratischen Leitkultur, ist Fundamentalist. Die absolute Unterwerfung des Menschen unter religiöse Dogmen, wie sie immer wieder in Moscheen gepredigt wird, ist mit Demokratie, Rechtsstaat und Grundrechten unvereinbar.

Wenn über religiöse Dogmen nicht diskutiert werden darf, weil sie angeblich von Gott geschaffen sind, wenn Ungläubige als Feinde gelten, dann werden Redefreiheit, Pressefreiheit, Glaubensfreiheit, Wissenschaftsfreiheit, wird die Ausübung von Grundfreiheiten zur Blasphemie. Das zerstört die Grundlagen des Zusammenlebens.

Muslime werden lernen und akzeptieren müssen, dass der Koran, wie die Bibel auch, Gegenstand von Kritik, ja sogar von Spott sein kann und darf. Wer einen aufgeklärten Islam verlangt, tut recht daran - sollte aber daran denken, wie schwer sich mit dieser Aufklärung das Christentum getan hat.

Noch 1952 hat die katholische Bischofskonferenz gegen die Mischehen von Katholiken und Protestanten gewettert, und politische Wahlempfehlungen waren bis in die sechziger Jahre gang und gäbe.

Integration ist ein forderndes Wort. Es fordert viel von den Muslimen. Und es fordert immer noch einiges von der deutschen Politik, die jahrzehntelang blind war für die Zuwanderung - und die jetzt, mit dem Zuwanderungsgesetz, mühselig versucht, Versäumtes nachzuholen.

Schon jetzt Parallelgesellschaften

Etliche Innenminister reden von Integration noch immer so, als meinten sie in Wahrheit Assimilation. Sie wollen zwar nicht mehr, wie noch vor zwei Jahrzehnten, den ganzen Türken mittels Rückkehrprogramm aus Deutschland entfernen, aber doch seine Identität.

Man tut so, als könne man die deutsche Gesellschaft (die multikulturell ist, ob man will oder nicht) homogenisieren und sterilisieren wie die Milch. Otto Schily hat wiederholt für Assimilierung plädiert, weil er das "Entstehen von Parallelgesellschaften" befürchtet.

Es gibt diese Parallelgesellschaften schon. Sie werden aber, wenn man mit der Assimilierungswalze über sie hinwegrollt, nicht verschwinden, sondern sich verfestigen. Über die Ausländerviertel in den Großstädten muss man sich nicht unbedingt grämen: Sie sind für Einwanderer eine Kulturschleuse, sie führen nicht zwangsläufig zu Ghettobildung und zu abgeschotteten Subkulturen mit zum Teil hoher Kriminalität. Das wird aber dann verstärkt passieren, wenn es nicht gelingt, Deutsch zur Umgangssprache für die Ausländer in Deutschland zu machen.

Die zweite deutsche Einheit

Integration ist ein sensibler Prozess. Mit Haudrauf und Wegdamit und Feldzügen wider die Ausländerei, wie sie vor 195 Jahren Johann Gottlieb Fichte gepredigt hat, wird nur eines erreicht: Die Minderheit flüchtet sich noch mehr in ihr Anderssein, nimmt zu einer aggressiven Ethnizität Zuflucht.

Ein kluges Konzept sieht anders aus: Es wirbt um die Neubürger, es akzeptiert kulturelle Unterschiede. Und die Mehrheitsgesellschaft ist bereit, sich mit der Aufnahme der Neubürger auch selbst zu verändern, aber sie pocht darauf, dass es einen gemeinsamen Rahmen für alle, für die Alt- und für Neubürger gibt: die Grundwerte der Verfassung und die deutsche Sprache.

Vor 15 Jahren war die deutsche Einheit der erste große Beweis für die so genannte Magnettheorie, also für die Anziehungskraft dieses freiheitlichen Rechtsstaates und seiner Verfassung. Die nächste große Probe wird sein, ob es ihr gelingt, die zweite Einheit herzustellen - die zwischen den Alt- und Neubürgern.

© SZ vom 20.11.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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