Kommentar:Freiheit für die Arbeit

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Der Bundestag debattiert an diesem Freitag über das Verhältnis des Staates zu seinen Bürgern. Auf der Tagesordnung steht dieser Punkt nicht, abgestimmt wird über Gesetze zum Arbeitsmarkt, zu Haushalt und Steuerreform. Ein Kommentar von Robert Jacobi

(SZ vom 17.10.2003) - Tatsächlich geht es aber um jene Fragen, die in Zeiten leerer Staatskassen und freier Weltmärkte dringender zu beantworten sind als jemals zuvor: Welche Aufgaben sollte ein modernes Staatswesen erledigen? Wie viel Selbstverantwortung darf und muss den Bürgern zugeschrieben werden? Und wofür sollte der Staat jenes Geld einsetzen, das ihm jeder einzelne Steuerzahler überweist?

Lange vor der Geburt des Sozialstaats suchte Immanuel Kant nach Antworten. Als Grundlage für eine funktionierende Gesellschaft galt ihm, dass die Menschen ihren Trieb ausleben können, sich mit anderen im offenen Wettstreit zu messen.

Wenn der Staat seinen Bürgern nicht die größtmögliche Freiheit sichert, sondern ihr Leben bis ins Detail beeinflusst und regelt, würden ihre Talente "in einem arkadischen Schäferleben bei vollkommener Eintracht, Genügsamkeit und Wechselliebe" auf ewig verborgen bleiben. Der Mensch verliert seine Würde, weil er nicht aus eigener Kraft handeln kann. Würden alle Bürger oder weite Schichten vom Staat versorgt, fällt die ganze Gesellschaft ins Schäferleben zurück.

In Deutschland gibt es Städte wie Berlin, in denen fast jeder zweite Einwohner irgendeine Sozialleistung bekommt. Jahrzehntelang erfand eine Regierung nach der anderen neue Methoden, um die Fürsorge auszudehnen, den Bürgern vermeintlich Gutes zu tun und eine neue Wählerschicht zu gewinnen.

Niemand wollte erkennen, dass der bundesdeutsche Staat längst begonnen hatte, sich seiner Handlungsfähigkeit zu berauben. Wird jetzt nicht die Wende eingeleitet, dann droht dieser Staat an seiner eigenen Gutmütigkeit zu ersticken. Der Schaden wäre viel größer als durch Einschnitte in die Sozialsysteme.

Bundeskanzler Gerhard Schröder ist zweimal als Vertreter des alten Staatsverständnisses zur Wahl angetreten. Nach viereinhalb Jahren im Amt steuerte der Kanzler dann plötzlich um - und direkt in ein Glaubwürdigkeitsproblem hinein.

Eine lange Liste an Wahlversprechen musste er kassieren, bis er seine Koalition so weit brachte, die Bezugsdauer des Arbeitslosengelds zu kürzen und die Arbeitslosenhilfe abzuschaffen. Der Aufstand der Reformkritiker war verständlich, weil sie ihre eigene Regierung nicht wiedererkannten. Der Streit zeigt aber, dass ein lernfähiger Kanzler, der hin und wieder mit Rücktritt drohen muss, für das Land viel wichtiger ist als die aufrechten Kämpfer zu seiner Linken.

Ein Blick in die Arbeitslosenstatistik und in die Staatskasse müsste jedem vernunftbegabten Wesen zeigen, dass es so nicht weitergehen kann. Die Probleme lassen sich nicht durch hier ein kleines Gesetz und dort ein Trostpflaster lösen. Der Weg vom Bürger zur Arbeit wird von Bürokratiebergen, von Förderprogrammen und staatlichen Zwangshürden versperrt.

Der Arbeitsmarkt wurde sozialisiert, die Kosten der Arbeit zugleich immer höher geschraubt. Der Staat hat die Aufgabe an sich gezogen, Arbeit zu schaffen, und ist dabei kläglich gescheitert.

Jede sinnvolle Reform muss die Eigenverantwortung der Bürger stärken. Es geht nicht darum, mehr Freiraum für Unternehmer zu schaffen, wie die Bremser behaupten. Konzerne handeln längst über alle Grenzen und suchen sich den attraktivsten Standort aus. Mehr Freiheit brauchen vor allem die einzelnen Bürger, damit sie ihre Arbeitskraft unter realistischen Bedingungen anbieten können.

Heute sorgt der Staat dafür, dass sich Arbeitgeber nur für Angebote interessieren, die den allerhöchsten Ansprüchen genügen. Die deutsche Wirtschaft ist hochproduktiv, hat aber unterm Strich in den letzten zwei Jahrzehnten kaum einen neuen Arbeitsplatz geschaffen.

Die Arbeitsmarktgesetze werden gerne als Jahrhundertreform verkauft. Das zeigt, wie groß der Nachholbedarf ist. Doch sowohl die Regierungsvorschläge als auch der Gegenentwurf der Union sind nur erste zaghafte Schritte. Beide setzen auf bessere Vermittlung, die aber nichts bringt, wenn es keine Jobs zu vermitteln gibt.

Schon vor den Zugeständnissen an die Kritiker enthielten die Koalitionsentwürfe so viele Sonderregeln, dass die Verwaltung so ineffizient und aufwendig bleibt wie bisher. Die Union will alle Langzeitarbeitslosen zu den Kommunen schicken, die aber, abgesehen von Starnberg oder Bad Homburg, heillos überfordert wären.

Auch sollen die Arbeitslosen notfalls öffentliche Jobs bekommen. Dafür müssten Städte und Gemeinden teure Beschäftigungsgesellschaften schaffen - das Verhältnis von Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt würde weiter verzerrt.

Im Bundesrat könnten auch die wenigen sinnvollen Ansätze in einem Notkompromiss untergehen. Es sei denn, beide Seiten akzeptieren, dass das Land einen kompletten Umbau braucht. Wer hier schraubt und dort schraubt, wird für immer schrauben. Die Kosten der Arbeit dürfen nicht mehr davon abhängen, welche Wohltaten der Staat seinen Bürgern zugesteht.

Es wird vorübergehend Verlierer geben. Eine verantwortungsvolle Politik muss Menschen aber manchmal zumuten, was sie nicht hinnehmen wollen. Der Gewinn geht dann an alle.

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