Kommentar:Freiheit, die ich meine

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Ein Begriff, zwei Definitionen: Wie Angela Merkel und Franz Müntefering aneinander vorbeireden.

Christoph Schwennicke

Im Wahlkampf, als Angela Merkel noch Schwarz-Gelb und ein Bündnis mit Guido Westerwelle als Vizekanzler anpeilte, verzahnten sich die Schlagworte des Bundespräsidenten, der CDU-Chefin und der FDP.

Bundespräsident Horst Köhler schuf den Begriff von der "Ordnung der Freiheit", den auf argwöhnisch machende Weise Angela Merkel wenige Tage später entlehnte, um ihn gegen die Politik von Bundeskanzler Schröder zu stellen.

Auch die Liberalen benutzen den Freiheitsbegriff wie Köhler: als Freiheit vom Staat. Diese Freiheitsmelodie klingt wie eine moderne Variation auf den alten Wahlkampfschlager der Union, den der heutige Herzens-Sozialdemokrat und frühere CDU-Generalsekretär Heiner Geißler seinerzeit gegen die SPD verwandte: Freiheit statt Sozialismus.

Mit ihrer Regierungserklärung ist Kanzlerin Merkel wieder zum Sprachgebrauch der Kandidatin Merkel zurückgekehrt. Über Wochen hinweg hatte sie sich, aufgrund der völlig veränderten Ausgangslage, zur sprachlichen Mimikry genötigt gesehen.

Die "Koalition der neuen Möglichkeiten" stand für diesen großkoalitionären Neu-Sprech, der nicht ihrer wahren Überzeugung entsprach.

Nach ihrer Wahl zur Kanzlerin - auch durch die Abgeordneten der SPD - hat sie zur Freiheit ihrer Worte und ihrer Meinung zurückgefunden. Das Schlagwort "Mehr Freiheit wagen" ist für den Sozialdemokraten an und für sich nur schwer zu kritisieren, weil es zunächst zurückgeht auf die Dreifaltigkeit der Französischen Revolution, auf der auch die Grundwerte der SPD aufbauen.

Überdies bettete Merkel es ein in ein variiertes Zitat von Willy Brandt. Wer will dazu schon Nein sagen?

Kontrollfreak Müntefering

Dennoch ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass zwei Zwangs-Partner hier denselben Begriff verwenden, aber jeder für sich etwas ganz anderes darunter versteht: Wo Angela Merkel die Freiheit vom Staat vorschwebt, hängt ihr Vizekanzler Franz Müntefering der Freiheit durch den Staat an.

Müntefering ist ein Etatist, auf jeden Fall ein Kontrollfreak. Er zieht lieber eine Mauer zu viel hoch, bevor er eine zu viel einreißt. Deshalb beunruhigt ihn zum Beispiel eine europäische Dienstleistungsrichtlinie, die in Merkelschem Sinne Freiheit schaffen will.

Nie hätte Müntefering eine Agenda 2010 von sich aus angepackt, für die Merkel deren Urheber Schröder explizit gedankt hat. Er würde immer die Bremse ziehen, wenn ihm das Fahrrad bergab zu schnell wird - selbst wenn klar ist, dass man auf der anderen Seite nur mit viel Schwung wieder hinaufkommt. Im Grunde hat er Angst vor der Freiheit, die Merkel meint.

Es sei die Kraft der Freiheit, die den Menschen erst mündig mache, hatte Angela Merkel am 17. März 2005 im Bundestag gesagt. Am 30. November nahm sie an selber Stelle diesen Gedanken wieder auf.

Semantisch hat sie damit von ihrer Richtlinienkompetenz Gebrauch gemacht. Inhaltlich aber steht sie unter Münteferings Kuratel.

© SZ vom 2. Dezember 2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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