Kommentar:Eine Frage des Vertrauens

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Sicher, es kann schon mal passieren, dass das Bundestagspräsidium mit seinen Schriftführern, alles Abgeordnete aus Koalition und Opposition, die Auszählung einer Abstimmung verbaselt. Am Freitag geschah genau dies: Man warf Stimmkarten aus zwei verschiedenen Abstimmungen zusammen und musste deswegen die ganze Prozedur wiederholen.

Von Kurt Kister

(SZ vom 18. Oktober 2003) Als die Panne bekannt wurde, stand gerade der manchmal ebenso unberechenbare wie stets besserwisserische Friedrich Merz (CDU) am Rednerpult. Merz insinuierte sofort, dass die Kollegen aus der Regierungskoalition den Fehler bewusst herbeigeführt hätten. Füglich "vergaß" er dabei, dass der Lapsus in der Schlamperei von Abgeordneten aller Couleurs begründet lag.

Der an und für sich nebensächliche Vorgang und die Reaktion von Merz sind leider typisch für den Zustand der Politik in diesem Land. Die beiden Abstimmungen zu den Hartz-Gesetzen waren ein sehr bedeutender Teil der vielen Nagelproben, denen die dahinschlitternde rot-grüne Regierung derzeit ausgesetzt ist.

Nagelprobe für Rot-Grün

Gleichzeitig wollte die Opposition durch die einheitliche Ablehnung dieser Gesetze entschieden ihre Geschlossenheit demonstrieren. Normale Menschen passen in einer solchen Lage besonders auf, dass zumindest das Procedere stimmt. Die auszählenden Abgeordneten waren dazu nicht fähig. Das ist ärgerlich, weil sich das Parlament so mutwillig Hohn und Spott aussetzt.

Nicht nur an den Stammtischen wird man sich fragen: "Wenn die sogar dazu zu doof sind, wie sollen die dann die wirklichen Probleme lösen?" Genauso ärgerlich wie typisch war die Reaktion von Merz. Wenn etwas schief läuft, wird sofort und ohne nachzudenken der politische Gegner verantwortlich gemacht - selbst wenn der jüngste Saaldiener im Reichstag erkennt, dass nicht nur in diesem Fall Nachlässigkeit und Hudelei gleichermaßen in allen Fraktionen beheimatet sind.

Gewiss, Pauschalurteile sind immer ungerecht. Trotzdem aber bestimmen sie über den Eindruck, den die Wähler von denen haben, die sie regieren oder regieren wollen. Die Vielzahl der Eindrücke wiederum entscheidet darüber, ob die Menschen grundsätzlich Vertrauen in die Politik und die Politiker haben. Dieses Vertrauen hat, wie Meinungsumfragen, aber auch sinkende Wahlbeteiligungen belegen, deutlich nachgelassen.

Grummelnde Abgeordnete

Ein gerüttelt Maß an Schuld daran trägt die Bundesregierung. Bei dem Versuch, eine Autobahn-Maut einzuführen, ließ sich der Verkehrsminister von der Industrie monatelang an der Nase herumführen. Ganz ähnlich verhielt sich der Umweltminister, als er darauf vertraute, dass Handel und Industrie ein vernünftiges Rücknahmesystem für Pfanddosen anbieten würden.

Der Finanzminister, der einst die Neuverschuldung auf Null bringen wollte, gebietet heute über den größten Schuldenhaushalt der Nachkriegsgeschichte. Der Kanzler verordnet dem Land und seiner Partei ein Reformpaket, dessen Durchsetzung in den eigenen Reihen er nur mit Rücktrittsdrohungen sichern konnte.

Zu allem Überfluss versuchen dann die Propagandisten dieser Regierung auch noch, dem Volk zu erklären, dass es ihm eigentlich besser gehe als früher, obwohl doch viele wissen und fast jeder das Gefühl hat, dass ihm weniger vom Erarbeiteten bleibt - wenn er denn überhaupt Arbeit hat.

Vor diesem düsteren Hintergrund hat sich Rot-Grün am Freitag nun doch dazu aufgerafft, mit der knappen eigenen Mehrheit eine Reihe von Reformgesetzen auf den Weg zu schicken. Zumindest die beiden Hartz-Abstimmungen waren, obwohl offiziell so nicht deklariert, Vertrauensfragen für Schröder. Das Spezifische dabei allerdings ist, dass schon in der eigenen Partei Vertrauen in Schröder zeitlich enge Grenzen hat.

Wochenend-Vertrauen in den Kanzler

Am Freitag blieb vielen grummelnden Abgeordneten wieder einmal nichts anderes übrig, als Schröder zu vertrauen. Voraussichtlich schon am kommenden Montag wird dieses Wochenend-Vertrauen wieder von den Wogen des Streits über die Zukunft der Rente hinweggespült werden.

Bei seiner vorerst letzten Rücktrittsdrohung hat Schröder seinen Verbleib im Amt mit der Durchsetzung der Agenda 2010 bis Weihnachten verknüpft. In den nächsten Wochen steht einerseits der Kampf gegen die Union im Bundesrat bevor, der wegen der dortigen Mehrheitsverhältnisse von Rot-Grün nicht gewonnen werden kann.

Andererseits gibt es Mitte November einen SPD-Parteitag mit Vorstandswahlen, auf dem Schröder wieder einmal den Eindruck erwecken muss, er sei SPD-Vorsitzender nicht nur, weil er gerade Kanzler war, als Oskar Lafontaine den Vorsitz hinwarf.

Mann der Exekutive

In Wirklichkeit aber ist das so. Schröder führt die SPD, weil Franz Müntefering 1999 noch zu blass und Rudolf Scharping ... nun ja. Schröder wollte ganz lange und sehr heftig Kanzler werden; der Parteivorsitz aber gehörte nicht zu seinen Karrierezielen. Er ist nicht der Mann, der bereit ist oder in der Lage wäre, eine breite Debatte über das Programm der SPD als von innen respektierter Vorsitzender zu lenken und zu moderieren. Schröder ist ein Mann der Exekutive, den mit andauernder Amtszeit die bedächtigen Prozesse der Legislative mehr und mehr nerven.

In der Fraktion gibt es für seinen Geschmack viel zu viele Bedenkenträger. Vollends zuwider ist ihm die Vorstellung, er müsse sich in den Parteigremien ernsthaft und mit großem Zeitaufwand über, sagen wir, die Relevanz des "demokratischen Sozialismus" für die SPD des 21. Jahrhunderts auseinander setzen. Die SPD ist ihrem derzeitigen Chef ein Vehikel, und wenn das nicht so richtig fährt, dann soll es der Müntefering reparieren.

In dieser Logik liegt die Tatsache, dass Schröder immer größere Teile der Partei immer unwilliger folgen. Er muss seine aus der Exekutivmacht heraus geborenen Vorhaben der oft strukturkonservativen, manchmal sehr gefühligen Riesenfamilie SPD überstülpen. Gerhard Schröder ist in diesem Sinne nicht wie Willy Brandt der Vater der Partei, sondern eher der aus rein pragmatischen Gründen eingesetzte Vormund.

Es kommt nicht von ungefähr, dass Schröder so gern mit Spitzenmanagern aus der Wirtschaft verkehrt. Die können entscheiden, ohne sich dem schwierigen Prozess der Konsensfindung in Partei, Fraktion und Koalition aussetzen zu müssen.

"Wir gegen uns"

Was bleibt von dieser Woche der Entscheidung? Die Regierung ist wieder einmal gerettet, für mindestens drei Tage. Die Probleme sind nicht kleiner geworden, dafür wachsen täglich die Schulden. Schröder hat immerhin den kleinen Vorteil, dass die Union insgesamt nicht in der Verfassung ist, in nächster Zeit die Regierung übernehmen zu können. Was dem Ansehen der Regierung nützen würde, wäre eine vorübergehende Einstellung des Kampfes "wir gegen uns".

Auch eine Kabinettsumbildung ist mehr als erwägenswert, weil einige Minister und Staatssekretäre zu wahrnehmbar nach Misserfolg riechen. Sollte dieser Kanzler auch nach Weihnachten noch regieren, wäre es allemal Zeit für einen neuen Anfang. Nach 1999, der ersten Vertrauensfrage 2001 und dem Wahlsieg 2002 wäre das dann Schröders vierter Neubeginn.

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