Kommentar:Ein Urenkel für Erhard

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Die Reform des Sozialstaats scheint nicht nur die SPD, sondern auch die Union zu zerreißen.

Von Nikolaus Piper

(SZ vom 11. Oktober 2003) Sie profitiert zwar vom Niedergang der Sozialdemokraten - Edmund Stoibers Wahltriumph hat dies gezeigt. Doch CDU und CSU sind über ihre Mehrheiten im Bundesrat in die Verantwortung für die Reformpolitik mit eingebunden.

Und selbst wenn dies nicht so wäre - eine Opposition kann schlecht blockieren, wenn die Regierung plötzlich vieles von dem macht, was sie selber immer gefordert hat. Roman Herzog und seine Kommission haben in CDU und CSU Konfliktlinien offen gelegt zwischen ökonomisch motivierten Erneuerern und sozial motivierten Bewahrern der bestehenden Sozialsysteme, die spiegelbildlich denen in der SPD entsprechen.

Roter Wolfgang, Schwarzer Friedrich

Was den Roten Wolfgang Clement, das ist den Schwarzen Friedrich Merz, und wo die Sozialdemokraten Ottmar Schreiner haben, da wartet die Union mit Norbert Blüm und Horst Seehofer auf.

Man mag sich wundern, die CSU im Lager der Bewahrer zu finden, doch wer den Wahlkampf Stoibers beobachtet hat, den konnte dieser Schwenk nicht wirklich überraschen. Es muss ja auch irgendwie verlockend sein, die SPD mit sozialer Rhetorik fertig zu machen. Doch es geht dabei ja nicht um die SPD, es geht um die geistigen Grundlagen der C-Parteien.

Einer der bemerkenswertesten Sätze der Debatte stammt von Fraktionsvize Friedrich Merz, der den "Anfang vom Ende der Sozialdemokratisierung der CDU" ausrief. Interessant daran ist zweierlei: Merz unterstreicht erstens zu Recht, wie nahe sich die beiden großen Volksparteien in Wirklichkeit stehen, in ihren Konzepten ebenso wie in ihren Problemen.

Zweitens aber behauptet Merz implizit, dass man die CDU ent-sozialdemokratisieren und dann, wie auch immer, zu einem marktwirtschaftlichen Urzustand zurückkehren könnte. Und hier irrt Merz: Diesen Urzustand gibt es nicht, es hat ihn nie gegeben.

Was heißt "sozial"?

Helmut Kohl sagte einmal zu seinem damaligen Koalitionspartner Guido Westerwelle, die CDU sei nicht die Partei der freien, sondern die der sozialen Marktwirtschaft. Den Satz würden vermutlich auch heute noch die meisten Parteimitglieder unterzeichnen. Das Problem dabei ist nur: Was heißt das eigentlich? Und was hilft das Adjektiv "sozial" an Stelle von "frei", wenn es um Kopfpauschalen, um die Rente mit 67 und die Versicherung von Zahnersatz geht?

Der Begriff "Soziale Marktwirtschaft" war das Markenzeichen der CDU in den fünfziger und sechziger Jahren; ihre Einführung gilt, neben der Westbindung, als zentrale historische Errungenschaft; das Konzept stiftete Identität nach innen. Der große Nachteil besteht darin, dass der Begriff in Wirklichkeit sehr unscharf definiert ist.

Für Ludwig Erhard, den Vater des westdeutschen Wirtschaftswunders, war eine Marktwirtschaft aus sich heraus sozial, vorausgesetzt, der Staat sichert die Wettbewerbsordnung und sorgt für stabilen Geldwert. Sein Staatssekretär Alfred Müller-Armack, der den Begriff 1946 erfunden hatte, forderte dagegen eine "sozial gesteuerte" Marktwirtschaft: ein kleiner, aber entscheidender Unterschied, wenn es um die Bedeutung der Sozialpolitik im Rahmen der Wirtschaftspolitik geht.

In einem Punkt unterschieden sich Müller-Armack und Erhard nicht: Sie forderten, dass die Sozialpolitik "marktkonform" zu sein habe, dass sie also das Wirken des Marktmechanismus nicht be- oder gar verhindert. Sie verlangten ordnungspolitisches Denken, und das war schon damals mit den Bedürfnissen einer Volkspartei nur schwer in Einklang zu bringen.

Erhard hat keinen Enkel

Der erste Bundeskanzler Konrad Adenauer hatte zu vielen Dingen ein sehr pragmatisches Verhältnis, darunter auch zur Marktwirtschaft, deshalb gab es so viele bittere Konflikte mit Erhard. Gegen dessen Widerstand setzte er die Rentenreform von 1957 durch. Erhards Argumente gegen Adenauer sind heute wieder brennend aktuell. Zwar hat das damals installierte Rentensystem nicht die Inflation angeheizt, wie Erhard befürchtete, aber die vorhergesagte Überforderung der Volkswirtschaft ist längst eingetreten - weil das System den Politikern Anreize bietet, immer mehr in die Rentenversicherung hineinzupacken.

Vermeintlich pragmatische Politiker neigen dazu, in die Wirtschaft einzugreifen, ohne die langfristigen Folgen zu bedenken. In diesem Sinne war Helmut Kohl tatsächlich ein würdiger Enkel Adenauers. Auch Stoiber und Schröder könnte man zu Enkeln oder Urenkeln des Alten erklären. Einen Enkel Ludwig Erhards dagegen gibt es bis heute nicht - ein Reflex auch der Tatsache, dass Erhard in der Union immer einsam war. Oder anders gewendet: In dem Sinne, in dem Friedrich Merz das meinte, war die CDU schon immer sozialdemokratisch, von der CSU ganz zu schweigen.

Bitterer Pragmatismus

Dies sollte man nicht gleichsetzen mit einem besonders hohen Einfluss des Arbeitnehmerflügels der Union. Die Sozialausschüsse waren immer randständig, auch damals, als Norbert Blüm in Bonn die Sozialpolitik bestimmte. Und sie waren auch immer wieder für eine besondere Form des Populismus anfällig.

In den Anfängen der sozialliberalen Koalition 1969, als SPD und FDP das Geld mit vollen Händen ausgaben, da warf Blüms Ziehvater Hans Katzer der Bundesregierung vor, den Rentnern etwas vorzuenthalten, also noch zu wenig Geld auszugeben. Umgekehrt sollten Wirtschaftsrat und Mittelstandsvereinigung der Union nicht als verlässliche Horte marktwirtschaftlichen Denkens missverstanden werden. Beim so genannten Wirtschaftsflügel der Union gab und gibt es immer wieder ein erhebliches Potenzial an interessengeleitetem Interventionismus.

Ausweg Kopfpauschale

Nimmt man Müller-Armack ernst, dann ist die Union heute nicht die Partei der Sozialen Marktwirtschaft. Bezeichnend etwa, dass sich Merz, Merkel, Stoiber und Blüm besonders um die Kopfpauschalen streiten, und zwar noch viel heftiger als die Sozialdemokraten. Dabei sind sich alle in der Union einig, dass die Kassenbeiträge die Lohnkosten unverantwortlich in die Höhe treiben und dass das bisherige System ungerecht ist, eine Umverteilungsmaschine zu Lasten der Arbeitnehmer, aus der sich die Wohlhabenden herauskaufen können.

Die Kopfpauschalen wären ein Ausweg, die Umverteilung würde zielgerichteter und ruhte nicht mehr allein auf den Schultern der Arbeitnehmer. Warum also der erbitterte Widerstand? Weil das Modell die Aufgabe der Umverteilung dem Staat übertragen und sie so transparent machen würde. Die Sozialpolitiker fürchten, vielleicht sogar mit einem gewissen Recht, dass dann manches nicht mehr so leicht durchsetzbar wäre. Aber was bleibt vom Konzept der Sozialen Marktwirtschaft, wenn man die Transparenz scheut und daher marktkonforme Lösungen verhindert?

Auf der anderen Seite ist es ein Zeichen der Hoffnung, dass auch in der Union endlich die entscheidenden Grundsatzfragen erörtert werden, und zwar an die Wurzeln gehend, radikal eben. Man wünscht sich nur, dass CDU und CSU dabei nicht nur viele Urenkel Adenauers, sondern auch einen Erhards entdecken.

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