Kommentar:Die schutzlosen Kinder

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Der deutsche Staat tut nicht genug, um Kinder vor ihren gewalttätigen Eltern zu schützen. Zwar kann auch bessere Politik zum Schutz der Kinder nicht alle Risiken beseitigen. Sie kann sie aber verringern.

Felix Berth

Wahrscheinlich sind wenige Schicksale so bestürzend: Ein zweijähriges Kind wurde vom Vater misshandelt und getötet. Die Leiche versteckte der Mann im Kühlschrank; die Polizei fand sie bei der Wohnungsdurchsuchung.

Das Bremer Jugendamt wusste von der Drogensucht des Vaters, überließ ihm trotzdem das Kind.

Kevins Leben, Kevins Tod - ein Albtraum: Wer versucht, sich ein Bild davon zu machen, spürt ein Entsetzen, das kaum zu steigern ist.

Der deutsche Staat tut nicht genug, um Kinder vor ihren gewalttätigen Eltern zu schützen. Seit mehr als zehn Jahren weist die Wissenschaft einen praktikablen Weg der Prävention von Kindesmisshandlungen.

Die Vorschläge, die Kinderärzte, Kriminologen und Sozialarbeiter aus den USA entwickelt haben, sind in der Bundesrepublik durchaus bekannt. Umgesetzt werden sie fast nirgends.

Sie zielen darauf, dass Prävention so früh wie möglich ansetzen muss. Ein gutes Frühwarnsystem beginnt schon vor der Geburt, in den Kliniken: Ärzte oder Hebammen führen ein ruhiges Gespräch mit einer werdenden Mutter.

Es dient dazu, etwa ein Dutzend Fragen zu beantworten - etwa die, ob eine Mutter Drogen nimmt, ob sie selbst als Kind Opfer von Gewalt war, zu Depressionen neigt und Ähnliches.

Die Auswertung dieser Fragen ermöglicht erstaunlich präzise Prognosen: Etwa achzig Prozent der Risikofamilien lassen sich identifizieren. Diese Risiken gilt es dann zu minimieren.

Die Fragen in der Klinik werden von Müttern nicht als Einmischung des Staates erlebt, zumal die Ärzte danach - falls notwendig - Unterstützung vermitteln.

Natürlich wundert man sich, warum ein solches Kurzinterview nicht zum Standard-Programm in der deutschen Geburtshilfe gehört. Die Antwort hängt mit dem Föderalismus zusammen: Um ein solches Warnsystem in der gesamten Republik zu etablieren, müsste man sechzehn Länder-Gesundheitsminister, sechzehn Länder-Sozialminister sowie die zuständigen Bundesminister überzeugen.

Bis das gelingt, ist, dürften Jahre vergehen, in denen immer wieder irgendwo "Modellprojekte" installiert werden. Das mag für einzelne Städte und Gemeinden (und die Kinder dort) positiv sein, doch insgesamt ist es zu wenig.

Wenn Bundesfamilienministerin von der Leyen jetzt ein "Aktionsprogramm Frühwarnsysteme" ankündigt, ist das lobenswert und ärgerlich zugleich: Lobenswert, weil sie die Arbeit der Wissenschaftler wahrnimmt und Verbesserungen erreichen will - und ärgerlich, weil es nicht zeitgemäß ist: Die Zeit der Erprobung ist vorbei, die längst vorhandenen Erkenntnisse müssen umgesetzt werden.

Weil das so schwierig ist, flüchten etliche Politiker in Alibi-Diskussionen über verpflichtende Untersuchungen beim Kinderarzt - und übersehen dabei deren zentrales Manko: Selbst wenn alle Eltern sich an eine Untersuchungspflicht hielten, würde ein Kinderarzt bestenfalls aufmerksam, wenn ein Kind bereits Opfer von Misshandlungen wurde.

Natürlich, auch mit Interviews in Geburtskliniken allein lässt sich keine Gewalttat verhindern.

Sobald ein Arzt Hinweise auf Risiken hat, muss den Familien wirksame Hilfe angeboten werden. Hier sind die Erfolge zwar geringer als bei der Diagnose, doch auch sie sind gut dokumentiert: Wenn Sozialdienste den Müttern langfristige Unterstützung anbieten, wenn sie in Gesundheitsfragen beraten und praktische Unterstützung bei der Erziehung geben, sinkt die Zahl der Gewalttaten erheblich.

Die Helfer dürfen dabei ihre Klientel nicht aus den Augen verlieren. Die Gruppe der echten Risikofälle ist zwar klein - doch solche Eltern haben enorme Schwierigkeiten, Unterstützung anzunehmen.

Gefahren gekannt

Schnell verschwinden sie wieder aus dem Blickfeld, weil sie Anfragen nicht beantworten, Termine versäumen oder gar erfundene Geschichten präsentieren. Wenn Sozialarbeiter nicht aufpassen, sitzen sie bald mit einer Runde von interessierten Mittelschichts-Eltern zusammen, die sich in Erziehungsfragen gern beraten lassen, während die echten Problemfamilien abgetaucht sind.

Mehr Aufmerksamkeit für die Risikofälle - dafür muss man die Rechtslage nicht verändern: Bei einer Gefährdung des Kindeswohls können Jugendämter schon heute das Sorgerecht entziehen lassen; freilich müssen sie sorgfältig und hartnäckig im Interesse der Kinder arbeiten.

Ein Sorgerechtsentzug mag das letzte Mittel sein - aber es ist möglicherweise lebensrettend.

In Bremen soll nun, von 2007 an, ein modellhaftes Frühwarnsystem erprobt werden, kündigt das Bundesfamilienministerium an. Hätte es dem zweijährigen Kevin geholfen?

Eine eindeutige Antwort darauf ist unmöglich. Das Jugendamt kannte die Risiken, deshalb behielt es die Vormundschaft über den Jungen. Am Wissen über die Gefahren mangelte es also nicht.

Doch vielleicht hätte Kevin einen Fürsprecher mehr gehabt, der früher gedrängt hätte, den Jungen aus der Wohnung seines Vaters herauszuholen.

Vielleicht.

Ein bitteres Wort, wenn man sich den Albtraum dieses Kinderlebens vor Augen führt. So schwer es auszuhalten ist: Auch bessere Politik zum Schutz der Kinder kann nicht alle Risiken beseitigen. Sie kann sie aber verringern.

© SZ vom 13.10.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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