Kommentar:Die Reform wirkt, vielleicht

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Von Heidrun Graupner

Ob eine Therapie hilft, hängt von zwei Dingen ab: von der richtigen Diagnose und vom passenden Medikament. Beim maroden Gesundheitssystem steht die Diagnose seit Jahrzehnten fest, doch mit der Suche nach einer wirksamen Arznei hatten Politiker bisher ihre Schwierigkeiten.

Mit jeder Gesundheitsreform kam es nach einer kurzen Phase der Konsolidierung regelmäßig zu einem neuen, heftigen Kostenschub. Und dieses Mal, bei der großen Reform von Regierung und Union? Seit die Zahlen für das erste Quartal 2004 vorliegen, ist der Jubel groß. Die Ausgaben für Medikamente fallen, die gesetzlichen Kassen melden ein Plus von fast einer Milliarde Euro. Seit zehn Jahren gab es keine solch guten Nachrichten.

Krankheit ist teurer geworden

"Die Reform wirkt", frohlockt Ulla Schmidt erleichtert, denn die Gesundheitsministerin steht unter Druck. Sie hat Beitragssatzsenkungen versprochen, und viele Wahlen stehen bevor. Allerdings jubeln nicht alle.

Manche Kassen, vor allem jene mit hohen Schulden, reagieren zurückhaltend, und sie haben Recht. Die Zahlen für die ersten drei Monate dieses Jahres lassen noch keine verbindliche Aussage über Erfolg und Misserfolg der Reform zu. Viele Patienten haben sich im Dezember, bevor die neuen Zuzahlungen eingeführt wurden, mit Medikamenten eingedeckt und planbare Arztbesuche absolviert.

Anfang Juli, wenn ein halbes Jahr im Zeichen der Reform überblickt wird, lassen sich solidere Rechnungen aufstellen. Erste Trends aber sind zu erkennen. Die plakative Aufregung über die Praxisgebühr hat sich gelegt, die Deutschen nehmen weniger Medikamente, was ihrer Gesundheit nicht unbedingt schadet.

Krankheit ist teurer geworden, weil das Gesundheitssystem nicht mehr ohne höhere Zuzahlungen auskommen kann. Jene Bürger, die viel Geld für Wellness und Heilpraktiker ausgeben, können sich das leisten, auch wenn gerade sie über die Reform besonders verärgert waren. Höhere Zuzahlungen haben einen steuernden Effekt.

Das richtige Mittel gegen teures Doktor-Hopping

Seit Einführung der Praxisgebühr gehen die Deutschen weniger zum Arzt, um etwa zehn Prozent haben die Arztbesuche abgenommen. Vielleicht ist die Gebühr wirklich das richtige Mittel gegen das teure Doktor-Hopping.

Die ersten Trends zeigen in der Tat den spontanen Spareffekt, den höhere Zuzahlungen immer bewirken. Ob dies zum Beispiel bei den Medikamenten so bleibt, muss sich erst erweisen. Pharma-Unternehmen haben bereits darauf reagiert, dass rezeptfreie Medikamente aus dem Leistungskatalog genommen wurden: Mit ein paar zusätzlichen Substanzen wurden manche Arzneien schnell wieder rezeptpflichtig gemacht.

Dass die Positivliste für diese Medikamente von der Gesundheitsministerin wieder in die Schublade gelegt wurde, könnte sich bald rächen. Jede Lücke im System wird von allen Beteiligten schnell entdeckt und gewinnbringend ausgefüllt.

Es wird noch lange dauern, bis der Erfolg der Reform feststeht. Ihr Ziel ist nicht nur, Verschwendung zu stoppen, sondern auch verkrustete Strukturen zu verändern.

Dies aber beginnt nur ganz langsam: Krankenhäuser öffnen sich ein wenig für ambulante Behandlungen, die integrierte Versorgung der Patienten von Kliniken, Ärzten und Therapeuten nimmt vereinzelt Konturen an, das Hausarztmodell gelingt nur dort, wo es noch genügend Hausärzte gibt, in Ostdeutschland können die Kassen nicht damit werben.

Die Ärzteschaft rüstet sich zum Wettbewerb, sie hat ihre Berufsordnung geändert: Mediziner können damit künftig selbst die in der Reform vorgesehenen medizinischen Versorgungszentren gründen, den Unternehmen wollen sie das Feld nicht allein überlassen.

Entdeckungsfahrt im unbekannten Terrain

"Die Politik bestimmt im Gesundheitswesen nur den Rahmen, Ärzte und Krankenkassen füllen ihn aus." Diesen Satz hat Ulla Schmidt immer wieder gesagt, auch beim missglückten Start der Reform. Es ist aber die Frage, ob die Politik, die zur Sanierung der Kassen eine Ökonomisierung der Medizin kräftig angeschoben hat, dem freien Spiel der viel gescholtenen Lobby nur zusehen kann.

Wettbewerb im Gesundheitswesen gilt als Entdeckungsfahrt in unbekanntem Terrain. Es ist zum Beispiel offen, ob mehr Wettbewerb zwischen den Krankenhäusern - was mit der Reform gewollt ist - zu mehr Qualität führt oder zu Fließbandarbeit in wenigen Klinikzentren. "Patienten sind keine Kunden", hat Bundespräsident Johannes Rau gemahnt, "die medizinische Versorgung darf nicht auf eine Dienstleistung reduziert werden."

Die Politik muss das richtige Maß finden, sie muss dafür sorgen, dass der Patient nicht auf der Strecke bleibt. Ganz das richtige Maß aber haben Regierung und Union mit der Reform nicht gefunden. Sie haben keine Ausnahmen bei den Zuzahlungen gewährt. Sozialhilfeempfänger, Obdachlose, Suchtkranke werden zur Kasse gebeten, sie verzichten auf Behandlung, was dem System letzten Endes teuer zu stehen kommt.

Die Politik hat für diese Menschen das Solidarprinzip abgeschafft, es gilt nicht mehr Reiche für Arme, es gilt gleiches Recht für alle, ob arm oder reich. Ist dies der langsame Abschied vom solidarischen System? Bei der nächsten, der wirklich großen Reform, der Entscheidung über Bürgerversicherung oder Kopfpauschale, wird es sich zeigen.

© SZ vom 2.6.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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