Kommentar:Die Not hinter den Zahlen

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Die neue Sozialhilfe-Statistik zeigt, wie sehr die Familien-Armut gestiegen ist.

Von Heidrun Graupner

Die Mitteilung des Sozialministeriums beginnt mit einem lakonischen Satz: "Entsprechend der konjunkturellen Entwicklung ist die Zahl der Sozialhilfeempfänger weiter gestiegen." Emotionen mag man sich offenbar in Berlin nicht leisten.

Es ist absehbar, dass sich die düsteren Zahlen, die das Statistische Bundesamt vorgelegt hat, 2005 potenzieren werden. Immer mehr Menschen sind von der Sozialhilfe abhängig: 2,81 Millionen waren es Ende vergangenen Jahres, zwei Prozent mehr als 2002.

In manchen Regionen verfestigt sich die Armut, in Bremen oder in Berlin, in Schleswig-Holstein oder im Saarland. In Ostdeutschland nimmt sie rapide zu - die Sozialhilfe-Statistik ähnelt einem flehenden Appell zur Katastrophenhilfe.

Emotionen mag sich auch Sozialministerin Ulla Schmidt nicht leisten. Mit den Zahlen hält sie sich nicht auf, nicht damit, dass 7,2 Prozent aller Kinder und Jugendlichen auf die Stütze vom Staat angewiesen sind, dass die Zahl von Eltern in der Sozialhilfe um 11,8 Prozent zugenommen hat.

Eltern, auch das zeigt die neue Statistik, können nicht flexibel auf dem Arbeitsmarkt agieren. Dies gelingt kinderlosen Ehepaaren eher: Bei ihnen konnten sich - entgegen dem Trend - mehr als zehn Prozent aus der Sozialhilfe befreien.

Familien- und Kinderarmut sind eine Gefahr für die Gesellschaft

Angesichts der Zahlen aus Wiesbaden müssten in Berlin und in den Ländern alle Alarmsirenen schrillen. Ulla Schmidt aber verbreitet Optimismus. "Mit unseren Reformen im Sozialrecht wird ab nächstem Jahr den Menschen gezielter geholfen", sagt sie. Sicher, Kinder sollen von 2005 an etwas mehr Geld vom Staat erhalten, unter Siebenjährige in Westdeutschland zum Beispiel 29 Euro im Monat. Dies wird Not ein wenig lindern. Aber es genügt nicht.

Familien- und Kinderarmut sind eine Gefahr für die Gesellschaft. "Wenn wir an dieser Stelle weiterhin versagen, also völlig zukunftsvergessen werden," sagt der ehemalige Verfassungsrichter Paul Kirchhof, "sind alle anderen Reformen ziemlich belanglos."

29 Euro oder ein Mehrbedarfszuschlag für allein Erziehende ändern nichts: Kinder, die in der Sozialhilfe leben, versagen in der Schule, sie sind häufiger krank, sie werden Opfer von Gewalt. 90 Prozent aller vernachlässigten Kinder stammen aus armen Familien. Und Armut vererbt sich.

Diese Kinder brauchen intensive Förderung. Der Staat kann es sich nicht leisten, dass sieben Prozent aller Heranwachsenden am Rande der Gesellschaft stehen. Bund und Länder aber streiten über die Finanzierung der geplanten Kindertagesstätten, Jugendprojekte werden gestrichen, und möglicherweise fehlen im Herbst 30000 Ausbildungsplätze.

Wenn der Städte- und Gemeindebund glaubt, eine schnelle Arbeitsvermittlung durch Hartz IV könnte Sozialhilfekarrieren verhindern, dann irrt er. Kinder mit schlechten Zeugnissen, schlechtem Gesundheitszustand und psychischen Schwierigkeiten finden später keinen guten Job. Sie werden Hilfsarbeiter - oder bleiben Sozialhilfeempfänger.

© SZ vom 10.08.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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