Kommentar:Die Ich-weiß-nicht-Wahl

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Der Sommer, der in weiten Teilen Deutschlands keiner war, geht zu Ende. Schon in dreieinhalb Wochen findet die Bundestagswahl statt, es sei denn, die Karlsruher Richter sollten entgegen der allgemeinen Erwartung am Donnerstag befinden, dass Bundeskanzler und Bundespräsident sich grundgesetzwidrig verhalten haben. Eigentlich hat jetzt die so genannte heiße Phase des Wahlkampfs begonnen.

Kurt Kister

Die Meinungsumfragen ergeben, dass die Hälfte der Stimmberechtigten noch nicht weiß, wen sie wählen wird. Man kann dies optimistisch interpretieren und den Schluss ziehen, dass viele eben noch die Argumente abwägen und die Parteiprogramme studieren.

Noch sind die Wahlurnen im Lager und die Wähler sind unentschieden (Foto: Foto: ddp)

In Wirklichkeit aber ist es anders: Das Interesse an dieser Wahl ist gering, auch weil die Erwartungen an und das Vertrauen in die Gestaltungs- und Veränderungskraft der zur Wahl Stehenden gering sind. Gäbe es starke Überzeugungen, ausgeprägte Wechselwünsche, gar politische Gefühle in diesem Land zu dieser Zeit, würden nicht so viele Leute sagen: "Keine Ahnung. Weiß noch nicht, wen ich wähle."

Man kennt die Spitzenkandidaten und auch das Personal der zweiten Reihe seit langem. Man hört seit mehr als zehn Jahren, dass die Verringerung der Arbeitslosigkeit und die Sanierung der Staatsfinanzen im Mittelpunkt der Politik stünden. Kohls viereinhalb Millionen Arbeitslose sind Schröders fünf Millionen geworden, und es spricht nicht viel dafür, dass man in vier Jahren über Merkels drei Millionen reden wird. 1998 war es immerhin so, dass die Mehrheit einen anderen Kanzler haben wollte. Dies mobilisierte sogar Gefühle.

Keine Woge der Sympathie

Heute haben zwar sehr viele die SPD als Regierungspartei satt, was den großen Abstand zwischen ihr und der Union in den Umfragen erklärt. Eine Aufwallung zu Gunsten Merkels, gar eine Woge der Sympathie, gibt es aber nicht, im Gegenteil. Der tiefste Grund dafür mag darin liegen, dass man mit Merkel zwar Zielstrebigkeit, Durchsetzungsvermögen, Machtbewusstsein assoziiert. Jenseits solcher professionellen Werte aber strahlt sie wenig aus: kaum Wärme, begrenzten Witz, nicht einmal Schlitzohrigkeit.

Der auf Parteiveranstaltungen gelegentlich gespielte Stones-Song Angie passt zu ihr so gut wie ein Château Margaux zur Weißwurst. Davon allerdings nimmt die große Mehrheit der Deutschen wenig Notiz. In der Kanzlerpräferenz liegt Schröder vor Merkel. Die Stimmung im Volk entspricht der Edmund Stoibers: Die Union soll regieren, aber Angela Merkel eigentlich nicht. Trotzdem ist die Enttäuschung über die SPD bei den Wählern wohl groß genug, dass sie das Missvergnügen an einer Kanzlerin Merkel überwiegen wird. In irgendeiner Konstellation wird sie wahrscheinlich Regierungschefin werden.

Das Risiko trägt einen Namen: Guido Westerwelle

Die Konstellation, die Merkel anstrebt, nämlich eine Koalition mit der FDP, birgt für die Wahl ein weiteres Risiko. Es trägt einen Namen: Guido Westerwelle. Der FDP-Vorsitzende bemüht sich seit langem heftig darum, den Eindruck zu widerlegen, er sei ein "politischer Leichtmatrose", wie dies Stoiber trefflich und treffend ausgedrückt hat. Es ist Westerwelle bisher nicht gelungen, was nicht nur an der Bosheit seiner politischen Gegner und der Häme der Journalisten liegen kann.

Die FDP hat, belastet auch durch das Tralala-Image ihres Vorsitzenden, bisher kaum von der Anti-SPD-Stimmung profitiert. Als eigenständige Kraft wird sie im Bund wenig wahrgenommen. Wenn man heute über die FDP spricht, dann fast nur in dem Zusammenhang, ob es wohl für Schwarz-Gelb reichen wird. Ein Grund dafür ist immer noch Westerwelles lustig-desaströser Kanzlerwahlkampf 2002, in dem die Eigenständigkeit der FDP auf so absurde Weise überhöht wurde, dass es Schwarz-Gelb letztlich den Wahlsieg gekostet hat.

Merkel, Westerwelle und, Zähne knirschend, auch Stoiber haben verstanden, dass sie dieses Mal als potenzielle Koalitionäre werben müssen. Deswegen treffen sie sich am Mittwoch zum vorzeitigen Koalitionsgipfel in Berlin. Es ist in erster Linie eine Veranstaltung für die Kameras, bei der bestätigt werden wird, dass wieder die antreten, die 2002 mit-, aber auch gegeneinander Wahlkampf gemacht und verloren haben.

2005 nun soll es anders werden, wofür auch Merkels 50-plus-Kompetenzteam steht, das mit der Ausnahme von Paul Kirchhof wie eine Verkörperung des Adenauerschen Wahlspruchs "Keine Experimente" wirkt. Die Experimente übrigens, die Professor Kirchhof im Kopf hat, hat die Polit-Physikerin Merkel schon mit dem Begriff Visionen belegt und damit in der Sprache der politischen Klasse hinreichend abqualifiziert.

Weil die Zahl der Ist-mir-eigentlich-egal-Wähler, der Enttäuschten und der vor dem Spitzenduo Merkel/Westerwelle leicht Schaudernden so groß ist, ist die Sache wirklich noch nicht ganz entschieden. Realistisch gesehen ficht Schröder darum, für die SPD wenigstens die strategische Minderheit zu gewinnen. Die hätte er erreicht, wenn es im nächsten Bundestag eine Mehrheit ohne seine Partei nicht geben würde. Joschka Fischer wiederum kämpft, heiser raunzend auf den Marktplätzen, wenn nicht für die Rettung, so doch für die Ehrenrettung von Rot-Grün und damit, wie immer, auch für sich und sein Lebenswerk.

(SZ vom 24.8.2005)

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