Kommentar:Die Folgen der Agenda

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Die Agenda 2010 spaltet das Arbeitsrecht. Für wertvolle Arbeitskräfte gelten andere Regeln als für sogenannte "arme Leute". Und statt zu rebellieren fügt sich der Wähler stillschweigend in sein Schicksal.

Von Heribert Prantl

Fazit nach einem Jahr Agenda 2010: Derweil die Kirchen über die Entchristlichung der bundesdeutschen Gesellschaft klagen, verhält sich diese christlicher denn je. Selten war sie so friedfertig. Selten hat sie sich von der Politik so viel gefallen lassen. Selten hat sie sich so an das Wort der Bibel gehalten, wie es bei Matthäus und Lukas verzeichnet ist: Schlägt Dich jemand auf die linke Backe, so halte ihm auch die rechte hin. Seitdem also die Wähler von der SPD auf die eine Wange geschlagen werden, halten sie der CDU/CSU die andere hin, sagen danke und machen ihr Kreuz bei den Konservativen.

Es gibt zwei Erklärungen dafür. Erstens: Der Wähler sagt sich, dass er ja die Schläge der Union nicht richtig spürt, weil die nicht an der Regierung ist; und er wendet sich dieser Union zu, solange die ihn nur virtuell züchtigt.

Wenn schon, denn schon

Erklärung Nummer zwei: Wenn schon, denn schon. Wenn die Menschen schon gezüchtigt werden sollen, wie es ihnen der Kanzler verkündet, dann wollen sie es richtig; und sie vertrauen darauf, dass, wenn die Union schlägt, dies lege artis geschieht, dass es therapeutische Wirkung hat und die Durchblutung der Volkswirtschaft fördert. Die tabubrechende Agenda-Politik der SPD hätte nach diesem Erklärungsmuster einen masochistischen Appetit der Wähler geweckt. Diejenigen freilich, die diesen Appetit nicht entwickeln, bleiben bei den Wahlen zu Hause und träumen von einer neuen Partei, die so ist, wie die Sozialdemokratie war.

Die Agenda hat einen Überbietungswettbewerb zum Abbau rechtlicher Standards ausgelöst. Im Rahmen dessen hat die Union jüngst vorgeschlagen, den Kündigungsschutz im Arbeitsrecht radikal einzuschränken. Sie folgt damit der Deregulierungs-Lehre, wonach die geltenden Regularien des Arbeitsrechts die unternehmerische Freiheit unzumutbar behindern und folgt der idealistischenVorstellung, dass eine wiederhergestellte unternehmerische Freiheit genutzt wird, um Arbeitsplätze zu schaffen: In dem Maße, in dem das Arbeitsrecht gestutzt und Vertragsfreiheit wieder hergestellt wird, steigt angeblich die Bereitschaft, Arbeitsplätze zu schaffen.

Diese Wippe-Theorie hat schon die Regierung Kohl ausprobiert und den Kündigungsschutz verkürzt. Der Erfolg war vor allem die Abwahl Kohls. Auch die Regierung Schröder hat schon dergestalt dereguliert: Heute können Unternehmen aufgrund rot-grüner Reformen Arbeitsverträge mit Arbeitnehmern ab 50 Jahren ohne Sachgrund bis zu zwei Jahren befristen, ab 52 Jahren ist jede beliebige Befristung möglich. Weniger Kündigungsschutz - die arbeitsplatzschaffende Wirkung ist unsicher, die demotivierende Wirkung bei den Arbeitnehmern sicher.

Verlust des aufrechten Gangs

Mit dem Abbau von Arbeitnehmerrechten geht der aufrechte Gang im Betrieb verloren. Das widerspricht eigentlich vernünftigen Arbeitgeberinteressen: Ohne aufrechte und souveräne Mitarbeiter lässt sich ein Qualitäts-Unternehmen nicht gut betreiben. Wenn man die Leute vor den Kopf stößt und ihre Motivation kaputt macht, dann braucht man sich nicht zu wundern, wenn es mit dem Wachstum nicht vorangeht und die Nobelpreise in andere Länder vergeben werden.

Die Verfechter der Deregulierung haben natürlich Recht, wenn sie das Arbeitsrecht als ein Rechtsgebiet beschreiben, in dem die Vertragsfreiheit stark eingeschränkt ist; das Arbeitsrecht ist ein gewaltiges Instrumentarium zu genau diesem Zweck. Es begrenzt die Vertragsmacht des Arbeitgebers durch ein Regelsystem und versucht so, ungleiche Verhandlungs-Positionen auszugleichen. Wenn Ungleichheit ein bestimmtes Maß übersteigt, wird sie nämlich zur Unfreiheit. Das war vor hundertfünfzig Jahren so, das ist heute so und das ist auch bei der Fortentwicklung des Arbeitsrechts zu beachten.

Die geltende Arbeitsverfassung ist ja nicht in Stein gehauen, sie genießt keine Ewigkeitsgarantie. Sie muss freilich auch in Zukunft einen vernünftigen Interessenausgleich herstellen. Der bleibt auf der Strecke, wenn die Politik die Auswanderung aus dem Arbeitsrecht betreibt, wenn sie immer mehr Beschäftigungsverhältnisse nicht mehr dem Arbeitsrecht unterstellt, sondern allgemeinem Zivilrecht und der Vertragsfreiheit.

Arme-Leute-Arbeitsrecht

Die Agenda fördert die Spaltung des Arbeitsrechts: Für wertvolle Arbeitskräfte bleiben relativ ordentliche Standards erhalten, daneben entwickelt sich ein Arme-Leute-Arbeitsrecht, ohne tariflichen Schutz und mit bescheidener sozialer Sicherung. Die psychologischen Auswirkungen dieser Entwicklung sind womöglich schlimmer als die juristischen; es wird eine Stimmung befördert, wonach alles immer schlechter wird.

Juristisch freilich dürfte es so sein, dass in dem Maß, in dem der tarifliche Schutz zurückgeht, die Gerichte andere Schutzregeln heranziehen: Das Bürgerliche Gesetzbuch ist ja nicht mehr das von 1900. Es gibt Allgemeine Geschäftsbedingungen und ein ausgefeiltes Verbraucherrecht; und die Rechtsprechung ist dabei, dessen Normen auf Beschäftigungsverhältnisse zu erstrecken. Das heißt: Eine Auflösung des Rechtsschutzes wird es, mit welcher Agenda auch immer, nicht geben.

Nicht das Recht stört, sondern die Art und Weise, wie es von der Politik als störend dargestellt wird. Die Agenda-Politik hat daher keine neuen Kräfte geweckt, sondern einen gefährlichen Fatalismus befördert. Mit einem Volk von Fatalisten ist aber kein Staat zu machen.

© SZ vom 15.3.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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