Kommentar:Die Entdeckung der Türken

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Seit Jahrzehnten leben die Türken in Deutschland, aber richtig Notiz von ihnen nehmen viele erst, wenn es an die Einschulung der eigenen Kinder geht. Da plagt sie die Sorge, ob nicht zu viele Ausländer in der Klasse sitzen.

Tanjev Schultz

Jetzt, da in Frankreich Vorstädte brennen, taucht die bange Frage auf, ob nicht auch in Berlin-Kreuzberg oder Gelsenkirchen ein Ausbruch der Gewalt bevorsteht. Wird die terroristische Bedrohung bald ergänzt durch die Wut der Deklassierten?

Gläubige Muslime beten in der türkisch-islamischen Union der Anstalt für Religion in Berlin (Foto: Foto: AP)

Seit Jahrzehnten leben die Türken in Deutschland, aber richtig Notiz von ihnen nehmen viele erst, wenn es an die Einschulung der eigenen Kinder geht. Da plagt sie die Sorge, ob nicht zu viele Ausländer in der Klasse sitzen. Jetzt, da in Frankreich Vorstädte brennen, taucht die bange Frage auf, ob nicht auch in Berlin-Kreuzberg oder Gelsenkirchen ein Ausbruch der Gewalt bevorsteht. Wird die terroristische Bedrohung bald ergänzt durch die Wut der Deklassierten?

Wer sieht, wie es vielen Migrantenkindern in Deutschland ergeht, muss sich wundern, dass es keinen Aufschrei oder Aufstand gibt. In manchen Regionen, vor allem in den Großstädten, verlässt jedes vierte türkische Kind die Schule ohne Abschluss. Bei der Suche nach einem Ausbildungsplatz gehen die meisten leer aus. Gerade erst haben die Pisa-Forscher dem Land bescheinigt, es sei noch viel zu tun, um allen gleiche Chancen zu geben.

Die Integration der Migrantenkinder sei eine "bedeutende Herausforderung" - die meisten erreichten in der Schule ein Niveau, "welches ein erfolgreiches Weiterlernen in Ausbildung und Beruf gefährdet erscheinen lässt". Klar gesagt: Die Bildungschancen der Ausländerkinder sind nicht nur in Frankreich, sondern auch in Deutschland minimal. Im Schnitt sind ihnen ihre deutschen Mitschüler zwei Unterrichtsjahre voraus.

Vielerorts sind die Hauptschulen zu trostlosen Verwahranstalten verkommen. Die Lehrer sind dort schon froh, wenn "nichts passiert". Genau da liegt das Problem. Im besten Falle geschieht mit den Migranten nämlich nichts - und sie tun auch keinem anderen etwas. Das ist ein bisschen wenig für eine Gesellschaft, deren wichtigste Ressource das Wissen sein soll.

Ein bisschen wenig für eine Gesellschaft, in der mehr als 20 Prozent der 15-jährigen Schüler aus Einwandererfamilien stammen. Weil dem Staat eine vorsorgende Bildungs- und Sozialpolitik zu mühsam und teuer ist, finanziert er lieber einen kläglichen Reparaturbetrieb. Hunderttausende Euros zahlt er jedes Jahr für "berufsvorbereitende Maßnahmen", die Jugendliche erreichen sollen, um die sich vorher niemand gekümmert hat. Der Erfolg ist dürftig. Ein Zertifikat aus diesen Nachschulungen stigmatisiert mehr, als dass es hilft.

Wenn Bayerns Innenminister Beckstein in türkischen Vereinen zu Gast ist, redet er den Eltern ins Gewissen: "Türkische Kinder sind doch nicht dümmer als die deutschen!" Recht hat er. Doch Appelle an Ehre und Ehrgeiz reichen nicht. Viele der älteren Migranten können selbst kaum lesen, und im komplizierten Bildungssystem kennen sie sich nicht aus. Viel zu lange haben vor allem die Unionspolitiker so getan, als hätten nur die Ausländer eine Bringschuld.

Immer noch verunstalten Lehrer und Richter ausländische Namen, ohne höflich nachzufragen, wie sie richtig auszusprechen seien. Man mag das läppisch finden, aber für Migranten offenbart sich darin, wie wenig ihre Identität gilt. So haben es die Kultusminister auch über Jahrzehnte versäumt, die Zweisprachigkeit als Chance zu verstehen. Jetzt können viele weder richtig Deutsch noch richtig Türkisch. Großartige Dichter wie Orhan Pamuk oder Nazim Hikmet verstehen sie weder im Original noch in der Übersetzung.

An den Schulen unterrichten zu wenige Lehrer türkischer oder auch russischer Herkunft. Die Lehrpläne nehmen keinerlei Rücksicht darauf, dass es für die Kinder ein Gewinn wäre, ein türkisches Gedicht zu lesen. Wer das fordert, wird als Multikulti-Träumer verunglimpft. Dabei ist es nicht allein die Selbstabschottung, die zu Parallelgesellschaften führt. Natürlich muss der Staat auf die Grundrechte und sein demokratisches Ethos pochen. Aber nur wenn er in der Lage ist, den Kindern der Einwanderer auch Anerkennung und Bildung zu vermitteln, ist er glaubwürdig.

Der Wert der Bildung, schrieb der Gerechtigkeitstheoretiker John Rawls, dürfe nicht allein unter dem Blickwinkel der wirtschaftlichen Wohlfahrt kalkuliert werden: "Mindestens ebenso wichtig ist, dass die Bildung einen Menschen befähigt, sich die kulturellen Werte seiner Gesellschaft zu erschließen, und ihm dadurch ein sicheres Selbstwertgefühl verschafft." Vielerorts wird das Selbstwertgefühl bereits durch den bloßen Besuch einer Hauptschule strapaziert - und oft genug zerstört. Die Länder sollten dieses erniedrigende Schulsystem überwinden und Haupt- und Realschulen zu einem gemeinsamen Angebot mit besserer individueller Förderung zusammenführen.

Der Unterricht in Deutsch, aber auch in der Muttersprache der Migranten muss viel früher und intensiver beginnen. Wie in Bremen erprobt, können dafür auch die Ferien genutzt werden. Gut ausgebildete Sprachlehrer gehören bereits an jeden Kindergarten. Flächendeckend müssen Ganztagsschulen entstehen. All das kostet viel Geld und bedarf der bundesweiten Abstimmung.

Ausgerechnet jetzt einigt sich die große Koalition auf eine Föderalismusreform, nach der Bildung ganz den Ländern zufallen soll. Dabei hatte der Bund in den vergangenen Jahren wichtige Reformen finanziert, etwa ein Milliardenprogramm für Ganztagsschulen und Förderprojekte für Migranten. All das sollen die Länder nun alleine packen. Schlechte Aussichten für Migranten.

© SZ vom 9.11.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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