Kommentar:Deutsch-polnisches Wunder

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Von Kurt Kister

In jenem Teil der deutschen Öffentlichkeit, der sich historischer Daten bewusst ist, spielt der 1. August eine Rolle. Am 1. August 1914 begann der Erste Weltkrieg und aus Anlass des 90. Jahrestages erinnern in diesen Wochen eine Vielzahl von Büchern, Filmen und Artikeln an den so genannten Kriegsausbruch.

In Frankreich und England, wo dieser Krieg bis heute als The Great War firmiert, ist dies ähnlich. Auch bei unserem östlichen Nachbarn Polen hat der 1. August eine herausragende Bedeutung im kollektiven Gedächtnis. Allerdings geht es nicht um 1914, sondern um 1944.

Am 1. August vor 60 Jahren begann der Warschauer Aufstand gegen die deutschen Besatzer. 63 Tage lang leisteten Zehntausende Kämpfer vor allem der Armia Krajowa (AK, Heimatarmee) Widerstand.

Die erhoffte Unterstützung durch die Westalliierten blieb gering; die sowjetische Armee wartete, bereits am Ufer der Weichsel stehend, auf Weisung Stalins die Zerschlagung der Heimatarmee durch die Deutschen ab. Wehrmacht und SS, darunter die schlimmsten Verbrecher-Brigaden Dirlewanger und Kaminski, erstickten den Aufstand in Blut. Weit mehr als 170 000 Polen wurden getötet, Zehntausende nach der Kapitulation der AK deportiert, Warschau blieb zurück als rauchende Trümmerwüste.

In keinem anderen Nachbarland hatten die Deutschen seit 1939 so gewütet wie in Polen. Polens Juden wurden nahezu ausgerottet; die Führungsschicht wurde getötet oder in Konzentrationslager verschleppt.

Den Staat Polen wollte das NS-Regime von der Landkarte tilgen, die Polen sollten fürderhin den deutschen Herren Europas als Helotenvolk dienen. Mit dem Zusammenbruch des großdeutschen Reiches wandten sich Hass, Mord und Totschlag gegen die Deutschen in Polen.

Auf der Flucht vor den sowjetischen Truppen und später bei den systematischen Vertreibungen kamen Hunderttausende Deutsche ums Leben, Millionen verloren ihr Hab und Gut. Allerdings: "Nicht im Ende des Krieges" lag, wie es Richard von Weizsäcker in seiner historischen Rede am 8. Mai 1985 vor dem Bundestag sagte, "die Ursache für Flucht, Vertreibung und Unfreiheit".

Die Ursache, so Weizsäcker, lag im Anfang des Krieges und in jener deutschen Gewaltherrschaft, die zum Krieg führte.

Schon die Aussöhnung zwischen den einstigen Erbfeinden Frankreich und Deutschland ist bemerkenswert. Dass aber Polen und Deutschland heute friedlich, vertrauensvoll und miteinander vertraut werdend unter dem Dach der Europäischen Union leben, ist fast ein Wunder.

Es bleibt ein Wunder, auch wenn man dies westlich und östlich der Oder im Alltag kaum mehr wahrnimmt.

Brandts Kniefall, Schröders Reden

Bundespräsident Horst Köhler hat diesem Wunder dadurch Respekt gezollt, dass er seine erste Auslandsreise nach Polen machte.

Am Sonntag wird Bundeskanzler Gerhard Schröder an den Feiern zum 60. Jahrestag des Warschauer Aufstandes teilnehmen. Gewiss, Schröders Auftritt hat nicht jene Bedeutung, die Willy Brandts Kniefall 1970 am Mahnmal für die Opfer des Aufstandes im Warschauer Ghetto hatte.

Die Gräben zwischen Polen und Deutschen waren damals noch viel tiefer - 25 Jahre nach Kriegsende und angesichts der Tatsache, dass beide Länder unter den Rockschößen der jeweiligen Bündnisvormacht wenn nicht Feinde, so doch Gegner im Kalten Krieg waren.

Auch innenpolitisch war die Situation damals anders. Brandts Kniefall führte in Deutschland zu einer scharfen Kontroverse mit verletzenden Tönen gegenüber dem einstigen Widerständler und Emigranten Brandt.

Wenn heute Präsident oder Kanzler in Polen oder Tschechien um Vergebung für die Verbrechen der Deutschen bittet, erregen sich nur noch Teile der Funktionärsschicht der Vertriebenenverbände.

Auch in unserem Land hat sich viel verändert, was den Umgang mit der deutschen Vergangenheit und den Konsens über die Interpretation der Geschichte angeht. Ein Beispiel: In Deutschland war es bis hinauf in die politische Elite jahrzehntelang üblich, von den "Verbrechen der Nazis" zu reden oder andere Floskeln der bewussten Distanzierung zu gebrauchen ("Verbrechen im deutschen Namen", "Hitler griff Polen an").

Nicht nur, um der These der Kollektivschuld entgegenzuwirken, sollte diese Sprache verschleiern, dass die übergroße Mehrheit der Deutschen lange die Politik der NS-Regierung mehr volens als nolens mittrug, ja aktiv unterstützte.

Es waren aber nicht die Nazis, die Polen überfielen und dann blutig unterjochten, sondern es waren Deutsche in Uniform und Zivil - unter ihnen allerdings viele überzeugte deutsche Nationalsozialisten. In der Erlebnisgeneration war diese Erkenntnis noch nicht konsensfähig. Heute ist sie es.

Der Weg zur Befreiung Europas

Ja, es gab auch Widerstand in Deutschland. Aber der blieb, wie Schröder jüngst in seiner Rede zum 20. Juli richtig gesagt hat, "auf einzelne und kleinere Gruppen beschränkt". Dies schmälert nicht das Verdienst und den Mut der Widerständler.

Und sie haben durchaus etwas bewirkt, weil sie mit zur Identitätsstiftung jenes Nachkriegsdeutschlands beitrugen, das immer die Antithese zum deutschen NS-Staat sein wollte. Trotzdem waren sie Ausnahmen im Meer der Mitläufer, Mittäter und Täter.

Viele der relativ wenigen Widerständler, zumal die Männer des 20. Juli, handelten als deutsche Patrioten in Opposition zu Führung und Machtapparat des Staates.

Dies unterscheidet auch den vereinzelten deutschen Widerstand grundsätzlich vom massenhaften Widerstand in den besetzten Ländern. Die Résistance oder auch die Armia Krajowa kämpfte gegen die Deutschen und gegen Deutschland.

Trotz Verbindungen einzelner Gruppen des nichtkommunistischen deutschen Widerstandes ins Ausland, zum Beispiel des Kreisauer Kreises, konnte sich niemals eine "Gemeinsamkeit im europäischen Widerstand" (Schröder am 20. Juli) entwickeln.

Auch nach dem Krieg wurden in Polen oder Frankreich die Offiziere des 20. Juli oft als deutsche Soldaten wahrgenommen, die Auszeichnungen aus jenen Feldzügen trugen, die zur Besetzung Europas geführt hatten.

Gewiss ist es legitim, dass der Bundeskanzler in seinen Reden am 6. Juni in der Normandie und am 20. Juli im Berliner Bendlerblock die europäische Friedensunion auch als ein Vermächtnis des Widerstands in Europa und in Deutschland beschrieben hat.

Trotzdem bleibt wahr, dass die Zerschlagung jenes Deutschlands, das Europa unterjochen wollte, Voraussetzung war für die allmähliche Entwicklung unseres Kontinents zu einer Zone des Friedens und der gemeinsamen Werte.

Europa hat für die Unfähigkeit Deutschlands zum Frieden im vergangenen Jahrhundert bitter bezahlt. Wir haben nicht nur unsägliches Leid über Polen, Russen und viele andere Völker gebracht, sondern auch über uns selbst.

Auch der Warschauer Aufstand war trotz seines blutigen Scheiterns ein großer Schritt auf dem Weg zur Befreiung Europas. Das ist für Polen und Deutsche an diesem 1. August 2004 die wichtigste Botschaft der Teilnahme des deutschen Kanzlers an der Feier in Warschau.

© Süddeutsche Zeitung vom 31.7.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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