Kommentar:Der Staat, der alles wissen will

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Die deutsche Gendatei erfasst derzeit dreihunderttausend Personen und hat bisher schöne Erfolge bei der Aufklärung schwerer Straftaten erzielt.

Den maximalen Erfolg wird sie erzielen, wenn dort nicht nur drei- oder vierhunderttausend Kriminelle, sondern 82 Millionen potenzielle Straftäter registriert sein werden, nämlich die gesamte deutsche Bevölkerung - Gerhard Schröder, Friedrich Merz und Kardinal Lehmann inklusive.

Unionspolitiker haben schon mehrfach die Totalerfassung wenigstens aller Männer gefordert. Absurd, grotesk, rechtsstaatswidrig? Die Erfahrung der vergangenen Jahre lehrt: Nirgendwo werden aus vermeintlichen Absurditäten so schnell Normalitäten wie auf dem Gebiet der inneren Sicherheit.

Wer hätte vor zwanzig Jahren geglaubt, dass die Polizei der Bundesrepublik eines Tages ganz legal in Wohnungen einbrechen und dort Abhörwanzen installieren darf? Exakt dies ist seit 1998 Gesetz.

Kohl und Lambsdorff wären schon fällig gewesen

Der große Lauschangriff war vor zwanzig Jahren so undenkbar, wie es heute noch der große Gen-Angriff ist. Der Antrag, den am Donnerstag im Bundestag die Union gestellt hat, ist aber schon ein Schritt dahin: Künftig sollen, so will es die Union, von jedem, der irgendwie mit dem Gesetz in Konflikt kommt, die DNA-Identifizierungsmuster registriert werden.

Ex-Kanzler Kohl, Ex-Innenminister Kanther, Graf Lambsdorff und Karl Wienand wären demnach schon fällig gewesen. Die Union will den genetischen Fingerabdruck zu einer polizeilichen Standardmaßnahme machen, "bürokratische Hürden" sollen dabei weggeräumt werden.

Der Unions-Antrag sagt entwaffnend offen, was damit gemeint ist: der Richtervorbehalt nämlich; er sei "überflüssig". Eine richterliche Entscheidung "behindert", so die Union, "die schnelle Aufklärung".

Der Rechtsstaat wird Präventionsstaat

Sensibilität dafür, dass die DNA-Identifizierungsmuster den Zugriff auf persönlichste Daten ermöglichen und es deshalb besonderer rechtsstaatlicher Sicherungsmechanismen bedarf, ist nicht mehr vorhanden.

Weil diese rechtsstaatliche Sensibilität auf breiter politischer Front verschwunden ist, ist die Umwandlung des Rechts der inneren Sicherheit in vollem Gang; die Tendenz zur ganz großen Gendatei ist nur eines von vielen Indizien: Der Rechtsstaat Bundesrepublik geht über in den Sicherheits- und Präventionsstaat.

Rechte, die bisher als polizeifest galten, werden aus den angeblich übergeordneten Interessen der Bekämpfung von organisierter Kriminalität und Terrorismus oder aus sonstigen Sicherheitsgründen nicht mehr beachtet. Das Wort Vorbeugung rechtfertigt Maßnahmen, wie sie bisher nicht einmal im Rahmen der Strafverfolgung möglich waren.

Mit "Vorbeugung" begründeten die USA den Krieg in Irak

Ein Verdacht ist nicht nötig, es reicht ein Vorverdacht. Es genügt die bloße Möglichkeit, dass der beobachtete, belauschte und kontrollierte Mensch irgendwann irgendwie verdächtig werden könnte.

Mit dem Wort Prävention, also Vorbeugung, haben die Amerikaner den Krieg im Irak begründet. Mit der nämlichen Begründung wird heute in Deutschland in Grundrechte eingegriffen: Die verdachts- und schrankenlose Telefonüberwachung, wie sie in Thüringen schon eingeführt wurde und wie sie andere Bundesländer jetzt einführen wollen, wird begründet mit - Vorbeugung.

Was beim großen Lauschangriff offiziell noch nicht gestattet ist, beispielsweise die Aufzeichnung des Gesprächs mit einem Anwalt mittels Wanze, das soll nun im Rahmen dieser vorbeugenden Telefonüberwachung ohne weiteres möglich sein.

Herumstochern in Bankkonten Gleichfalls zur Vorbeugung sollen auf den deutschen Ausfallstraßen und Autobahnen Videokameras installiert werden und dort nicht nur dazu dienen, gesuchte Verbrecher und gestohlene Autos aus dem Verkehr zu ziehen; man will auf diese Weise potenziell nützliche Daten sammeln und Bewegungsprofile erstellen.

Die Erstellung von Kontoprofilen durch die Sicherheitsbehörden ist jetzt schon möglich. Zu Zwecken der Vorbeugung dürfen sie seit den 11.- September-Gesetzen in Bankkonten herumstochern.

Vorbeugung: Den US-Behörden werden seit dem Frühjahr 2003 sämtliche Buchungsdaten der Fluggäste aus Europa ausgeliefert - inklusive Kreditkarten-, Telefon-, E-Mail-Nummern, plus Sonderinformationen über körperliche Gebrechen.

Wer vorbeugen will, weiß nie genug

Diese Informationen werden in den USA in einem gigantischen Datenverbund abgeglichen. Was weiter damit geschieht, weiß keiner. Eine unabhängige Datenschutzkontrolle gibt es dort nicht.

Das Telekommunikationsgesetz, gestern im Bundestag eingebracht, will die Telefongesellschaften verpflichten, sämtliche Verkehrs- und Verbindungsdaten sechs Monate aufzubewahren - zur Vorbeugung. Also: Wer hat mit wem wie lange und von wo aus telefoniert? Auch Internetdaten müssen gespeichert werden, wobei darüber gestritten wird, ob auch Suchabfragen registrierungspflichtig sind. Wenn ja, dann können die Sicherheitsbehörden sehen, wer bei Google nach welchen Stichwörtern gesucht hat.

Präventive Logik ist expansiv: Wer vorbeugen will, weiß nie genug. Deshalb wird der Staat, zur Sicherheit, immer mehr in Erfahrung bringen wollen und immer mehr in die Intimsphäre eindringen. Dann kann es sein, dass eines Tages die Registrierung des genetische Fingerabdruck eines Neugeborenen so selbstverständlich sein wird wie heute die Eintragung im Geburtsregister.

© SZ vom 16.1.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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