Kommentar:Das bessere Deutschland

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Selten sind die Momente, in denen die Geschichte den Atem anhält, in denen eine Tat das Schicksal von Millionen Menschen entscheidet. Ein Beispiel ist missglückte Attentat auf Adolf Hitler vor 60 Jahren. So wenig hat gefehlt, und die Geschichte Deutschlands hätte einen ganz anderen Verlauf genommen oder doch nehmen können.

Von Joachim Käppner

Wenn der Bundeskanzler im Berliner Bendlerblock zu Ehren Claus Schenk Graf von Stauffenbergs spricht, der dort mit weiteren Verschwörern des 20.Juli 1944 erschossen wurde, dann schwingt die Trauer um die große verlorene Chance mit.

So wenig hat gefehlt, und die Geschichte Deutschlands hätte einen ganz anderen Verlauf genommen oder doch nehmen können. Ob die Alliierten, deren Armeen sich dem Reich damals rasch näherten, auf der bedingungslosen Kapitulation bestanden hätten oder nicht: Deutschland hätte sich selbst befreit von der Tyrannis, unter die es aus eigenem Verschulden gefallen war.

Ein Staatsakt für den Staatsstreich: Welche Bedeutung die Verschwörung gegen Hitler für das Selbstbild der Bundesrepublik hatte, wird oft unterschätzt. Selbst Historiker wie der Berliner Gedenkstätten-Leiter Johannes Tuchel sind überzeugt, der Widerstand des 20.Juli habe mehr als 50 Jahre gebraucht, um im historischen Selbstverständnis dieses Landes "anzukommen".

Die Tapferkeit der wenigen als Alibi für viele

Erst seit der deutschen Einheit nehme er den Platz ein, der ihm gebühre und der etwa in den feierlichen Gelöbnissen, welche Rekruten der Bundeswehr seit fünf Jahren am Bendlerblock ablegen, sinnfälligen Ausdruck finde.

Doch Männer wie Bundespräsident Theodor Heuss und Generalstaatsanwalt Fritz Bauer traten schon Mitte der fünfziger Jahre rechtsradikalen Tiraden gegen die "Landesverräter in Uniform" entgegen. Die Republik hat sich schon in den fünfziger Jahren an den 20. Juli erinnert - weil sie ihn brauchte.

Heuss und Bauer wollten die Ehre der Widerständler retten. Die Tapferkeit der wenigen wurde in der Adenauer-Zeit aber zu einem Alibi für die vielen, die nach dem Krieg auch schon immer gegen die Nazis gewesen sein wollten. Der 20.Juli 1944 verkörperte das, was die Bundesrepublik sein wollte, "das andere Deutschland", wie Theodor Heuss sagte.

Gehemmter Umgang mit Freiheitsbewegungen

Und doch blieb, anders als Heuss es wollte, die Erinnerung an den Widerstand gegen Hitler lange Zeit seltsam erstarrt, symbolhaft reduziert auf Stauffenberg, die Geschwister Scholl und Graf Galen. Der Widerstand war gewiss keine Massenbewegung. Aber er beschränkte sich auch nicht auf die nationalkonservativen Militärs und Männer der Kirche.

Dass der Widerstand weitaus breitere Formen hatte, galt in der Adenauer-Ära als ein Tabu, das bis heute nachwirkt. Die Deutschen haben sich schon immer schwer getan mit den Freiheitsbewegungen ihrer Geschichte, auch weil der 20. Juli scheiterte und die Freiheit von außen erkämpft werden musste.

Der Widerstand der Arbeiter, vor allem der Kommunisten, von der DDR ins Groteske überhöht, blieb im Westen lange ohne jede Resonanz. Judenretter in Wehrmachtsuniform sind in Deutschland kaum bekannt, in der israelischen Holocaust-Gedenkstätte gelten sie als "Gerechte unter den Völkern".

Dass sich die Union bis heute schwer damit tut, Zehntausenden Opfern der Wehrmachtsjustiz Anerkennung zu zollen, zeigt, wie zählebig die politische Verengung des Widerstandsbegriffs ist.

Sie bewiesen die Verantwortlichkeit des Einzelnen

Diese spätere Instrumentalisierung des 20. Juli 1944 aber mindert seine herausragende Bedeutung nicht. Heute, 60 Jahre nach dem Aufstand des Gewissens, mag man die Verschwörer mit all ihren Schwächen und Beschränkungen sehen, ihren Illusionen über Deutschlands Größe und ihren Idealen einer gerechten, aber autoritären und vordemokratischen Ordnung.

Wenige von ihnen hätten ihre politischen Träume in der Bundesrepublik wiedererkannt. Die Verschwörer sind nur aus ihrer Zeit heraus wirklich zu verstehen, aber gerade darum weist ihr Vorbild weit über ihre Zeit hinaus. Ihr tragisches Heldentum hat sicherlich einen Ehrenplatz in den Traditionen, auf die Deutschland stolz sein darf.

Ihr historisches Verdienst ist es , dass sie die Verantwortlichkeit des Einzelnen für sein Handeln bewiesen in einem System, das die Verantwortungslosigkeit zur Maxime erhoben hatte.

Zeitlose Größe trotz des Scheiterns

Kein größerer Unterschied ist denkbar als die Unbeugsamkeit der angeklagten Verschwörer vor dem Volksgerichtshof zu den erbärmlichen Versuchen jener NS-Täter, die sich zu Herren über Leben und Tod gemacht hatten und sich nach 1945 auf Befehle und die Erfüllung einer Gehorsamspflicht herausredeten.

Die Attentäter des 20. Juli verkörpern nicht nur ein besseres Deutschland, sondern auch eine Haltung zeitloser Größe. Sie traten ein für das, was sie als moralisches Gebot erkannten. Ihr Scheitern ändert daran nichts.

Vielleicht war es ja, wie der kluge alte Publizist Peter Bender schrieb, sogar historisch notwendig: Vielleicht mussten die Deutschen den Kelch bis zur bitteren Neige der völligen Niederlage 1945 leeren, damit die Verführungskraft des Nationalsozialismus zerbrach; vielleicht wäre sonst eine neue Dolchstoßlegende entstanden.

Stauffenberg selbst hatte gesagt, wer Hitler töten wolle, laufe Gefahr, als Verräter in die deutsche Geschichte einzugehen: "Unterlässt er jedoch die Tat, dann wird er zum Verräter vor dem eigenen Gewissen."

© SZ vom 20.7.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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