Kommentar:Amerikas Visionen

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Wolfgang Koydl

(SZ vom 3.5.2003) - Nahost brutal und wie gehabt: Die vergangene Woche unterschied sich nicht von den zurückliegenden Jahren. Ein Selbstmordanschlag in Tel Aviv, blutige Vergeltung in Gaza, Verwünschungen für Amerikaner, unschuldige Opfer im Irak.

Woher dann, bitte, nimmt George Bush die Kühnheit, im Kampfjet auf einem Flugzeugträger einzuschweben und, wenn schon nicht Friede, Freude, Fröhlichkeit, so doch bodenlosen Optimismus zu verströmen. Ist der Mann noch bei Trost? Die kurze Antwort lautet: Ja, er ist es. Denn die vergangene Woche zeigte nicht nur den üblichen Hass und Horror, es gab auch Anzeichen, die Grund zur Hoffnung und zur Zuversicht boten. Die Liste der Indizien dafür ist viel länger, als selbst Optimisten vermutet hätten.

Zum ersten Mal ist es den Palästinensern gelungen, den Würgegriff zu lockern, in dem ihr Zwerg-Tyrann Jassir Arafat sie seit Jahrzehnten hält. Im Irak einigten sich Dutzende politischer Gruppen auf einen Grundwertekatalog, und wenn es dabei nicht so gesittet zuging wie beim deutschen Verfassungskonvent vor 60 Jahren in Herrenchiemsee, so schlugen sich die Iraker doch nicht die Köpfe ein, wie es befürchtet worden war.

Saudis und Amerikaner vereinbarten derweil den Abzug der US-Truppen aus der Wüstenmonarchie, was den Sumpf des islamistischen Terrors besser und schneller trockenlegen könnte als alle Festnahmen von Terroristen. Schließlich stehen dann keine amerikanischen Soldaten mehr auf dem "heiligen Boden" des Landes von Mekka und Medina.

Und selbst aus Tripolis drangen positive Signale: Der Beduinenfürst Muammer al-Gaddafi zahlte das Blutgeld an die Hinterbliebenen der Terroropfer von Lockerbie und gab damit zu verstehen, dass auch er die neuen Realitäten anerkennt.

Diese Realität trägt beige amerikanische Tarnuniform, fährt mit Humvees und Panzern herum und hält mit dem Irak eines der wichtigsten arabischen Länder besetzt. Mord und Terror sind grausige Normalität im Nahen Osten, aber die positiven Zeichen der vergangenen Tage hätte es ohne den Irak-Krieg nicht gegeben.

Die USA haben auch nie verhehlt, dass sie einen Regimewechsel in Bagdad als Initialzündung für die Neuordnung der Region betrachteten. Der Nahe Osten freilich ist nur ein Element in einem weitaus ehrgeizigeren Projekt: der Schaffung einer neuen Weltordnung.

Am Anfang war Nahost

Ja, ausgerechnet George Bush, der vermeintliche Legastheniker und Wahlbetrüger, der Wildwest-Cowboy und Pretzel-Esser, ausgerechnet er will die Welt verändern und neu formen nach dem Ebenbild Amerikas. Ob man dies gut findet oder schlecht, er wird es durchziehen, und weder ihm noch seiner Nation wird dabei der Atem ausgehen. Denn auch im Kalten Krieg haben die USA fünf Jahrzehnte lang unbeirrt den Kurs gehalten, und die neue Aufgabe wird als genauso wichtig für Amerikas Interessen empfunden wie der Kampf gegen das Sowjetsystem.

Dass Bush mit dem Nahen Osten anfängt, ist kein Zufall sondern Notwendigkeit. Hier bündeln sich Gefahren und Risiken wie an keinem zweiten Ort der Welt: eine menschenverachtende Ideologie in Form einer bis zur Unkenntlichkeit entstellten Spottgeburt des Islam, von Waffen aller Art berstende Arsenale und dazu Hass und Hoffnungslosigkeit verarmter Völker verbinden sich zu einem hochbrisanten Gemisch.

So gefährlich ist die Mixtur, dass Europäer, Araber und bis vor kurzem auch Amerikaner den Eingriff scheuten. Doch heute denkt Amerika anders, zumindest gilt dies für die Neo-Radikalen, die in der Regierung Bush den Ton angeben: Da die Dinge im Nahen Osten ohnehin schon bald alleine aus dem Lot geraten wären, raten sie zur Vorbeugung. Es sei besser, Veränderungen zu steuern und zu kontrollieren, als von ihnen überrascht und überrollt zu werden.

Ihre Haltung reflektiert grundsätzliche Unterschiede zwischen Europa und Amerika. Es gab sie schon immer; sie kommen neuerdings nur sehr viel prägnanter zur Geltung. Dazu gehört, dass Amerika Veränderungen jedweder Art grundsätzlich stets begrüßt, derweil die misstrauischen Europäer allem Neuen meist mit Skepsis und mit Sorge begegnen. Sie ähneln einem Einsiedlerkrebs, der am verwundbarsten ist, wenn er sich ein neues Gehäuse zulegt.

Dann ist er schutzlos, und das letzte, was der Krebs braucht, ist jemand, der ihn ungestüm ermahnt, doch mit hinauszuschwimmen in den Ozean und Gefahren vorbeugend zu begegnen.

Radikale Ideologen

In einer Welt freilich, in der alte Muster, Strukturen und auch Sicherheiten nicht mehr gelten, ist jene Gesellschaft im Vorteil, die auf neue Herausforderun-gen rasch zu reagieren versteht: mithin Amerika. Dies ist der Grund, weshalb die USA die neuen Realitäten rascher erkannt haben als die Europäer, die lieber ihren alten Träumen nachhängen, selbst wenn sie sich als Albträume erwiesen haben.

Anpassungsfähigkeit ans Neue alleine freilich reicht auch nicht, wie die Europäer ihre amerikanischen Partner nicht müde werden zu erinnern. Sie verkommt zur unsteten Flatterhaftigkeit, wenn sie nicht fest verzurrt ist am Felsengrund bleibender Werte. Und diese Werte - Demokratie und Menschenrechte zumal - sind doch identisch auf beiden Seiten des Atlantik? Oder vielleicht nicht?

Nicht alle Intellektuellen oder Politiker sind überzeugt, dass dies stimmt. Der britische Historiker Mark Mazower beispielsweise unterstellt, dass die Europäer die Demokratie vor allem als Nebenprodukt von Kapitalismus und Wohlstand betrachten. "Europäer akzeptieren Demokratie, weil sie nicht mehr an Politik glauben", schreibt er.

Doch Mazower übersieht, dass Europa einfach oft nur einem anderen Moral-Kodex folgt als die USA. Und Amerika als demokratisches Vorbild? Zumindest die schwache Wahlbeteiligung spricht nicht dafür.

Richtig ist freilich, dass Europa, das vom Nationalismus über Faschismus und Kommunismus schon alle Varianten ausprobiert hat, der Ideologien müde geworden ist. Amerika hingegen ist in vielerlei Hinsicht eine radikal-ideologische Nation geblieben, die in ihrer Form der Demokratie nicht weniger als das Heil der Menschheit sieht. Gerade die Verknüpfung mit einem religiös verbrämten Sendungsbewusstsein verwirrt, irritiert und bestürzt viele Europäer.

Amerikanische Politiker lassen sich von hoch fliegenden Visionen leiten. Ihre aufgrund von Erfahrung vorsichtiger gewordenen europäischen Kollegen neigen eher dem Ausspruch von Österreichs ehemaligem Bundeskanzler Franz Vranitzky zu: "Wer Visionen hat, muss zum Arzt."

Allzu unbekümmert visionär packt Amerika nun auch die Aufgabe an, ein neues Ordnungsgerüst für eine aus den Fugen geratende Welt zu zimmern - oft ohne Rücksicht auf die Einwände anderer. Doch leider gibt es derzeit keinen anderen Baumeister als Washington. Nur die Europäer könnten - und sollten - mit dem Gewicht ihrer Erfahrung das jugendliche Ungestüm der USA bremsen. Auch Amerika könnte von Europa lernen. Doch dazu müssten die Europäer zuerst einmal für sich einen gemeinsamen Lehrplan erstellen.

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