Kommentar:Alles oder nichts

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Lange, sehr lange hat Europa um seine Verfassung gerungen. Über zehn Jahre lang. Denn all der Hader und Handel um ein tragfähiges Fundament für die EU, um eine zugleich zivilisierte wie demokratische Machtordnung für den Kontinent - all das begann schließlich Anfang der neunziger Jahre.

Von Christian Wernicke

Etwa mit Maastricht und dem Plan für den Euro, der unter den Völkern ein bis dato ungekanntes Unwohlsein gegen "Brüssel" schürte. Just zur selben Zeit verhießen die EU-Mächtigen den jungen Demokratien im Osten, sie seien willkommen im Westen.

Seither schwante allen: Sie mussten ihr Brüsseler Eigenheim, einst gebaut für nur sechs Nationen, von Grund auf renovieren. Das alte Gemäuer würde diesem doppelten Druck - von unten das Verlangen nach Mitsprache, von außen der Drang nach Mitgliedschaft - niemals stand halten.

Die Renovierung ist nun beendet. Was den Europäern zweimal - in Amsterdam 1997, in Nizza 2000 - misslang, es ist vollbracht: Dieses neue Grundgesetz ist das Minimum, was das vereinte Europa für seine Zukunft braucht.

Sicher, der konstitutionelle Kompromiss für einen ganzen Kontinent steht bei weitem nicht für eine ideale Ordnung. Aber die Verfassung ist für lange Zeit das Beste, was Europa in all seiner Wirklichkeit kriegen kann. Und diese Verfassung ist allemal besser als der Status Quo, mit dem die EU ihren langsamen Tod gefunden hätte.

Der Brüssel-Gipfel - ein doppelt-historisches Ereignis

Wie bitter nötig Europa einer soliden Neugründung bedarf, das haben die 25 Herren an Brüssels Tafelrunde ihren 450 Millionen Bürger ja erneut bewiesen - beim Zank um den künftigen Präsidenten der EU-Kommission.

Auch das war ein Kampf um die Zukunft. Und um die Frage, wer in dem neuen, seit dem 1.Mai vereinten Europa den Ton angibt. Paris und Berlin, die mit ihrem belgischen Wunschkandidaten Guy Verhofstadt einen überzeugten Föderalisten und bekennenden Gegner des Irak-Kriegs zum EU-Chef küren wollten, verloren diese Schlacht.

Denn ihr Versuch, den eigenen Favoriten ohne Rücksicht auf den Sieg von Christdemokraten und Konservativen bei der Europawahl durchzusetzen, schuf eine "Koalition der Unwilligen", triumphierend kommandiert ausgerechnet vom Labour-Mann Tony Blair.

So geriet dieser Brüssel-Gipfel zu einem gleich zweifach historischen Ereignis: Er gebar ein Dokument, das so wichtig ist wie einst die Verträge von Rom zur Gründung der EG - die EU-Verfassung. Zugleich aber erteilte er der deutsch-französischen Achse eine Lektion - wie wenig ihr Erbrecht auf Führung in der großen EU nämlich noch wiegt.

Deshalb ist die Verfassung so wichtig, gerade jetzt. Ihre endlosen Artikel, samt all der Klauseln und Kautelen über nationale "Notbremsen", Vetorechte und Stimmgewichte im Ministerrat - sie sind miserabler ausgefallen als erhofft. Aber sie schaffen der EU einen stabilen Rahmen in Zeiten innerer Unordnung.

In einer Phase also, da die 25 Regierungschefs binnen Minuten ihre Rollen wechseln: Die selben Gestalten, die als Verfassungsväter europäische Geschichte schreiben, streiten wie die Kesselflicker über eine Personalie. Der Verdacht liegt nahe: Wer nicht weiß, wen er will an der Spitze der EU, der weiß auch nicht, was er will in Europa.

Nur leider, noch ist es nicht so weit. Denn erst muss die Verfassung, die den Kontinent dauerhaft zusammenhalten soll, in allen 25 Nationen ratifiziert werden.

In acht, vielleicht zehn Ländern lauern Volksabstimmungen, und ob Briten, Dänen oder Iren ihr Ja-Wort geben werden zu diesem Kompromiss, steht in Europas Sternen.

Auch sammeln sich - etwa in Warschau und Prag - in etlichen Parlamenten die Europagegner, um die nötige Neugründung zu blockieren. Europas Grundgesetz, das große Einigungswerk - es könnte sich in jenen Sprengstoff verwandeln, der die Union von 25, bald 27 Staaten zerbersten lässt.

Auch das geriete dann, auf freilich ganz andere Weise, zu einer Neuordnung Europas. Unweigerlich wäre der Kontinent erneut gespalten. Dann würde sich ein Graben auftun, zwischen Zentrum und Peripherie. Drinnen wären die, die mitmachen wollen bei einer besseren und "immer engeren Union".

Die Neinsager jedoch, sie stünden draußen vor der Tür. Briten, Dänen oder Polen müssten ihr Verhältnis zu Brüssel ähnlich organisieren wie derzeit die Norweger. Oder etwa die Schweizer.

Ja oder Nein - so heißt ab sofort das Spiel

Denn dass Franzosen und Deutsche, Ungarn oder Spanier diese Verfassung auf den Müll werfen, steht nicht zu erwarten. Sie werden nachverhandeln, sicher. Aber irgendwann werden sie mit politischem Eifer juristisches Neuland betreten und diese Konstitution zu retten versuchen.

Sie wären damit auf dem Weg zu einem Kerneuropa - auf einem Kurs also, wie ihn die EU bislang nicht kannte: berechnet nicht im Kopf oder auf Strategiepapieren irgendeiner Staatskanzlei, sondern geschaffen vom freien, verneinenden Willen euroskeptischer Völker.

Ja oder Nein zu Europa - so heißt ab sofort das Spiel. Bei jedem Referendum, bei jeder Abstimmung, ob im Sejm oder im House of Commons. Die Prognose sei gewagt: Die politische Realität Europas wird nie so aussehen, wie sie auf dem Papier beschlossen wurde. Schon gar nicht für alle Europäer.

© SZ vom 21.06.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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