Koalition:"Wie es die Lage erfordert"

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Die Regierung will den Eindruck vermitteln, die Grenzkontroll-Entscheidung sei keine Fehlerkorrektur gewesen. Der CSU-Chef hatte zuvor den Druck erhöht.

Von Nico Fried und Christoph Hickmann, Berlin

Es ist der frühe Sonntagabend, als Sigmar Gabriel führenden Genossen ein Angebot macht: Er könne auch zur Kanzlerin gehen und ihr sagen, dass die SPD verlange, die soeben öffentlich verkündete vorläufige Schließung der Grenzen rückgängig zu machen, sagt Gabriel in einer Schaltkonferenz der SPD-Spitze. Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz und andere führende Sozialdemokraten hatten zuvor Bedenken angemeldet. Scholz äußerte die Sorge, dass man mit der Maßnahme Erwartungen wecke - was aber solle auf die Kontrollen als nächster Schritt folgen? Darauf habe man keine Antwort.

Die Debatte hatte sich bereits die ganze vergangene Woche über aufgeschaukelt

Gabriel argumentiert, man habe keine andere Option gehabt: Die Grenzen einfach offen zu lassen werde Länder und Kommunen in kürzester Zeit überfordern. Die Innenminister aller 16 Länder hatten bereits am Freitag erklärt, an ihre Grenzen zu stoßen. Der Münchner Oberbürgermeister Dieter Reiter, ein SPD-Politiker, hatte am Samstag fast flehentlich darum gebeten, seine Stadt, in der fast alle Flüchtlinge ankommen, nicht im Stich zu lassen. Die Grenze zu schließen sei auch keine Möglichkeit, sagt Gabriel in der Schalte mit den anderen Spitzengenossen. Mit Kontrollen aber sende man das Signal, dass Deutschland die Belastungsgrenze erreicht habe, und erhöhe so auch den Druck auf die europäischen Partner. Am Ende billigt die SPD das Vorgehen.

Es ist der Schlusspunkt einer Debatte, die sich in der großen Koalition schon die ganze Woche über aufgeschaukelt hatte. Schon am Mittwoch sitzen die Ministerpräsidenten zusammen und klagen sich - über Parteigrenzen hinweg - ihr Leid. Zum Wochenende hin erhöht dann vor allem Horst Seehofer den Druck auf Bundeskanzlerin Angela Merkel: Ihre Entscheidung, die Grenze für syrische Flüchtlinge zu öffnen, die zu Fuß auf Ungarns Autobahnen unterwegs waren, sei ein Fehler gewesen, "der uns noch lange beschäftigen wird", schimpft der CSU-Chef. Merkel verteidigt den Schritt noch am Samstag auf einer CDU-Veranstaltung.

Doch Seehofer will unbedingt eine Kursänderung. Es geht ihm nicht allein um den wachsenden Zustrom von Flüchtlingen - ihm passt die ganze Richtung nicht. Der CSU-Chef glaubt, Merkel wolle eine Art moderner Multikulti-Gesellschaft. Er weiß, dass die CDU mit Merkels Billigung einen Parteitagsantrag vorbereitet, in dem sie sich gegen die Überzeugung der CSU für ein Zuwanderungsgesetz offen zeigt.

In Konflikten mit Merkel hat Seehofer in der Regel drei Verhaltensmuster: Manchmal lässt er sich am Telefon verleugnen, so wie in der Nacht der Entscheidung über die Öffnung der Grenze. Manchmal droht er mit Konsequenzen - "darüber wird noch zu reden sein" - und lässt die Angelegenheit dann im Sande verlaufen. Oder aber er geht aufs Ganze; dann am liebsten öffentlich. So erinnert Seehofers offene Rüge für Merkel an jenen Auftritt im Mai 2012, als er seiner Wut über den CDU-Politiker Norbert Röttgen freien Lauf ließ. Im Nachgang zu einem Fernsehinterview hatte Seehofer den eben als Spitzenkandidaten bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen gescheiterten Umweltminister massiv kritisiert. Die Aufzeichnung der Plauderei mit "Heute-Journal"-Moderator Claus Kleber hatte er dann mit den Worten freigegeben: "Sie können das alles senden." Zwei Tage später feuerte Merkel ihren Minister.

Die Krise im Blick: Innenminister Thomas de Maizière am Montag auf dem Weg zum CDU-Präsidium. (Foto: Wolfgang Kumm/dpa)

Doch in der Flüchtlingsfrage steht Seehofer in der Union auch nicht allein. So wird zusätzlich Verärgerung über einen Satz der CDU-Chefin in einem Interview kolportiert: Merkel hatte gesagt, das Asylrecht in Deutschland kenne keine Obergrenze. Eine formal unbestreitbare Feststellung, die Merkel nun als politischer Fehler ausgelegt wird - genau wie ein Selfie-Foto, das sie gemeinsam mit einem Flüchtling machen ließ. Über die sozialen Netzwerke verbreitet, sei dieses Foto als Werbung für die freundliche Aufnahme in Deutschland zu verstehen, heißt es.

Am Samstagnachmittag gegen 15 Uhr beginnt dann eine Kurskorrektur, die in mehrfacher Hinsicht unter der Überschrift steht: Es geht nicht mehr. Die Kanzlerin lässt für den frühen Abend eine Telefonschaltkonferenz organisieren. Außer Seehofer und Gabriel bittet Merkel ihren Amtschef Peter Altmaier, Innenminister Thomas de Maizière und Außenminister Frank-Walter Steinmeier dazu. Um 17.30 Uhr ist man beisammen. Der Innenminister teilt mit, dass er vorübergehend wieder Grenzkontrollen einführen möchte, vor allem an den Übergängen nach Österreich. Angela Merkel, die lange gezögert hat, unterstützt das Vorhaben - viel werben muss sie dafür nicht mehr.

Am nächsten Tag wird Regierungssprecher Steffen Seibert gefragt, ob die Kanzlerin die Notwendigkeit einer Kursänderung nicht mit ihrer Grenzöffnung verschuldet habe. Im Kanzleramt komme man nicht zu dieser Einschätzung, sagt Seibert. Die Bundesregierung handele vielmehr stets so, "wie es die Lage erfordert". Es ist ein Satz, der auf jede Lage passt: die an den Grenzen und die in der Union.

© SZ vom 15.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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