Knappe Mehrheiten:Von der Hinterbank ins Rampenlicht

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Der Thüringer SPD-Spitzenkandidat Christoph Matschie will nach der Landtagswahl in Erfurt bleiben. Das kostet die SPD eine Stimme im Bundestag. Dabei ist die Mehrheit jetzt schon eng. Die Folge: Jeder Hinterbänkler kann die Regierung erpressen. Wie SPD und Grüne ihre Abweichler einzubinden versuchen.

Von Patrick Bernau

Das gute Dutzend saß in einem der runden Sitzungssäle im Bürohaus zwischen Reichstag und Kanzleramt: der geschäftsführende Vorstand der SPD-Fraktion. Mittendrin: die Abgeordnete Christa Lörcher aus Villingen im Schwarzwald, die der Vorstand einbestellt hatte. Krisensitzung am Mittwochabend, dem 14. November 2001 - am Freitag sollte der Bundestag darüber entscheiden, ob die Bundeswehr in Afghanistan mitkämpfen würde.

Es ging um Gerhard Schröders Amt: Der Bundeskanzler hatte die Vertrauensfrage mit dieser Abstimmung verknüpft. Lörcher hatte trotzdem ein "Nein" angekündigt. Einer nach dem anderen redete auf die Schwarzwälderin ein. Die damalige Fraktions-Geschäftsführerin Ilse Janz erinnert sich: "Da sind Tränen geflossen."

Christa Lörcher blieb bei ihrem Nein, doch es hatte nur symbolischen Wert: Der Bundestag beschloss den Einsatz in Afghanistan trotz fünf Gegenstimmen aus der Koalition, nur zwei Stimmen über der Kanzlermehrheit retteten Schröder.

Heute können Abgeordnete wie Christa Lörcher mehr erreichen. Inzwischen hat jeder Hinterbänkler Macht. Denn die rot-grüne Koalition hat im Bundestag nur noch 305 Stimmen, das sind drei über der absoluten Mehrheit. Noch dazu hat der Thüringer SPD-Spitzenkandidat Christoph Matschie angekündigt, nach der Landtagswahl am Sonntag in Erfurt zu bleiben. Das kostet die SPD eine weitere Stimme.

Einzelgespräche mit den Abweichlern

Denn in Thüringen hat die SPD ein Überhangmandat, und dafür gibt es keine Nachrücker. Schon im April verlor die SPD ein Überhangmandat, als die Hamburger Abgeordnete Anke Hartnagel starb. Bundeskanzler Gerhard Schröder und Fraktionschef Franz Müntefering müssen jetzt härter kämpfen denn je: um jede Stimme von jedem Abgeordneten.

Abweichler wie Hans Büttner nutzen das, um ihre Vorstellungen durchzudrücken. "Bei Hartz IV konnten wir Linke uns nur durchsetzen, weil die Mehrheit knapp war", gibt er zu. Hartz IV: Dabei ging es zum Beispiel darum, ob Langzeitarbeitslose einen Job auch dann annehmen müssen, wenn er schlechter bezahlt ist als üblich. Zusammen mit fünf Kollegen aus seiner Fraktion sorgte Büttner dafür, dass die Koalition ihren Gesetzentwurf wenige Tage vor der Abstimmung noch entschärfte.

Fraktionschef Müntefering habe ihn zum Einzelgespräch gebeten, erzählt Büttner. Am Schluss habe Müntefering nur noch gefragt: "Glaubst du, dass ihr diese Position alleine halten könnt?" Die Abweichler konnten. Büttner fühlt sich bestärkt: "Bei engen Mehrheiten hört die Fraktion besser zu, weil sie stärker auf den Einzelnen achten muss."

Ultima ratio: Termin beim Fraktionschef

"Schwachsinn!", erwidert SPD-Fraktionsgeschäftsführer Uwe Küster. "Mit guten Ideen haben sich Abgeordnete immer durchgesetzt." Küster muss das sagen. Würde er etwas anderes zugeben, könnten das potenzielle Abweichler als Ermutigung auffassen. Küsters Job als Fraktionsgeschäftsführer ist es aber, alle SPD-Abgeordneten auf Linie zu bringen.

Das passiert vor allem in zahllosen Gesprächen: Außer den parlamentarischen Geschäftsführern reden meist Abgeordnete aus dem gleichen Bundesland auf die Abweichler ein - und wenn jemand gar nicht umzustimmen ist, muss der Fraktionschef ran. Bei den Grünen wird wegen hartnäckiger Abweichler schon mal die halbe Fraktion zu einer Sondersitzung einberufen.

Das ist viel Aufwand - aber für die Regierung ist er die Lebensversicherung. Denn die eigene Mehrheit ist nicht zuletzt wichtig fürs Image. "Die Öffentlichkeit achtet sehr auf Abweichler", sagt der Dresdner Politik-Professor Werner Patzelt. Im Koalitionsvertrag sei außerdem vorgesehen, dass die Regierungsparteien Gesetze nur mit eigener Mehrheit beschlössen.

Vom Krankenbett in den Bundestag

Schon früher hatten Bundesregierungen Probleme mit engen Mehrheiten: Dass Konrad Adenauer sich bei seiner ersten Wahl zum Bundeskanzler die entscheidende Stimme selbst gab, wird oft erzählt. Doch auch Helmut Kohls Union/FDP-Koalition hatte ab 1994 nur noch vier Stimmen über der Kanzlermehrheit. Zur Abstimmung über das Sparpaket 1997 ließ sich CSU-Mann Michael Glos mit dem Hubschrauber aus dem Krankenhaus einfliegen - er hatte eine komplizierte Darm-Operation hinter sich.

Vom Krankenbett kam in dieser Wahlperiode noch keiner, doch Joschka Fi-scher musste letztes Jahr die UN-Vollversammlung vorzeitig verlassen, um zu Hause mit über die Gesundheitsreform abzustimmen.

Dann ist es vorbei mit der Abweichlerei: "Bei der Abstimmung erwartet die Fraktion eine umso stärkere Geschlossenheit", sagt der Darmstädter SPD-Abgeordnete Walter Hoffmann. Zwar könnten Einzelne ihre Vorstellungen jetzt besser durchsetzen als zu Zeiten großer Mehrheiten - aber nur, solange die Fraktion noch über ein Gesetz diskutiert.

Hält sich jemand nicht an die Spielregeln, ist die politische Karriere schnell ruiniert.

Wer zu oft aus der Reihe tanze, der werde zu den wichtigen Kungelrunden nicht mehr eingeladen, sagt Man-fred Schwarzmeier von der Akademie für politische Bildung in Tutzing.

Grüne geben Abweichlern Verantwortung

Der Wissenschaftler, der sich in seiner Doktorarbeit mit dem Verhältnis von Parlament und Regierung befasst hat, weist auf den Wert dieser Treffen hin: "Bei solchen Abendessen werden aber die zentralen Entscheidungen gefällt."

Bei den Grünen läuft das anders: Dort kommen Quertreiber jetzt privilegiert in den Fraktionsvorstand - dann sind sie von vornherein in die Entscheidungen eingebunden. "Das ist kein Zufall, dass Christian Ströbele einen Arbeitskreis leitet und Irmingard Schewe-Gerigk parlamentarische Geschäftsführerin geworden ist", sagt Ekin Deligöz, die andere parlamentarische Geschäftsführerin, die zum Realo-Flügel der Grünen zählt.

So konnte ihr linkes Pendant Schewe-Gerigk von vornherein auf die Frauenrechte in Hartz IV achten - und durchsetzen. "Der Einzelne kann nicht die große Linie ändern, aber er hat viel Einfluss auf Details", resümiert Deligöz.

Das gilt allerdings nicht mehr, sobald die Spitzen von Regierung und Opposition sich einig sind. Hans Büttner hatte da Pech: Seine Erfolge bei Hartz IV lehnte die Union im Bundesrat ab, auch im Kompromiss von Union und SPD waren sie nicht mehr drin.

Als der Bundestag über die Einigung entscheiden sollte, stimmten Büttner und Co. dagegen - doch das störte die SPD-Fraktionsspitze nicht mehr. Das Gesetz wurde mit 581 von 597 Stimmen angenommen.

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