Klagewelle:Pflegebedürftige Gerichte

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Krankenkassen reichen schlagartig Hunderttausende Klagen gegen Kliniken ein. Den Sozialgerichten gehen schon die Aktendeckel aus.

Von Stephan Handel

Die gelben Aktendeckel sind aus. In ihnen legen die bayerischen Sozialgerichte alle Klagen ab, die mit dem Krankenkassenrecht zu tun haben und die deshalb das Registerzeichen "KR" tragen. In Bayern gibt es sechs Sozialgerichte, normalerweise behandeln sie im Jahr rund 40 000 Klagen. Nun aber das: In der vorvergangenen Woche gingen alleine 14 000 Klagen ein, die alle in die gelben "KR"-Aktendeckel hätten sortiert werden müssen. Derlei aber überfordert die Justiz. Sie musste den bürokratischen Notstand ausrufen.

Die bayerischen Sozialgerichte sind nicht die einzigen, die mit dem Problem zu kämpfen haben. Es betrifft alle Bundesländer. Rheinland-Pfalz meldet einen Mehreingang von 15 000 Klagen, Nordrhein-Westfalen von 10 000. Das ist keine Klagewelle mehr, es ist ein Tsunami.

Die Streitschriften drehen sich alle um das Gleiche: Krankenkassen verklagen Kliniken wegen angeblich überhöhter Abrechnungen und verlangen Geld zurück. Der Grund hierfür ist ein neues Gesetz, das Pflegepersonal-Stärkungsgesetz, kurz PpSG. In der ersten Novemberwoche wurde dieses im Bundestag verabschiedet, am 1. Januar 2019 tritt es in Kraft.

Mit dem PpSG ändert sich vieles, schließlich sind die Pflege und ihre Finanzierung selbst schwer pflegebedürftig. Das PpSG hat Auswirkungen auf das Krankenhausfinanzierungsgesetz, auf die Bundespflegesatzverordnung, auf die Krankenhausstrukturfonds-Verordnung, vor allem aber auf das Sozialgesetzbuch V, in dem es um die gesetzliche Krankenversicherung geht. Keiner der Bürokratiebegriffe hat weniger als fünf Silben. Kein Wunder, dass da die simple Verkürzung einer Verjährungsfrist, die sich ebenfalls in dem Gesetz findet, zunächst nicht so viel Beachtung fand: Bisher konnten sich die Krankenkassen bis zu vier Jahre Zeit lassen, um gegen Klinikrechnungen zu klagen. Nun soll das nur noch zwei Jahre lang möglich sein. Die neue Frist gilt für alle Klagen, die nicht bis zum 9. November 2018 einem Gericht zugestellt wurden.

Die kürzere Verjährung sollte eigentlich Gutes bewirken: Durch sie sollen die Kliniken früher Rechtssicherheit bekommen. Das bedeutet, dass sie in ihren Bilanzen weniger Rückstellungen bilden müssen und das Geld in die Pflege fließen lassen können. Nun aber haben erst einmal die Sozialgerichte viel Arbeit. Wie viel das wirklich ist, deuten die exorbitant gestiegenen Klagezahlen nur an, denn die Krankenkassen haben - offenbar aus Zeitnot - gar nicht für jeden Streit eine eigene Klage eingereicht, sondern oft alle Beanstandungen gegenüber einer Klinik in einer gebündelt. Gerichte berichten von Klagen, in denen es um mehr als 1000 Fälle geht. Jeder Fall muss nun einzeln geprüft werden. Bundesweit dürfte die Zahl in die Millionen gehen. Günter Kolbe, der Präsident des Bayerischen Landessozialgerichts, hat ausgerechnet, dass die Gerichte in Würzburg, Nürnberg und Regensburg ein Jahr bräuchten, um die "KR"-Klagen zu bearbeiten - wenn sie sich ausschließlich um diese kümmern müssten.

In Schleswig-Holstein haben die Gerichte zumindest das Aktendeckel-Problem gelöst. Statt der vorgesehenen, die aufgebraucht sind, nehmen sie nun andere, die sonst nicht verwendet werden. Hausintern werden sie "die durchfallfarbenen" genannt.

© SZ vom 19.11.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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