Kaschmir-Konflikt:"Es könnte aus Versehen zum Atomkrieg kommen "

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Indien und Pakistan stehen dicht an der Schwelle zum Atomkrieg. Ein nuklearer Schlagabtausch zwischen Pakistan und Indien könnte jederzeit losbrechen, warnt Götz Neuneck vom Hamburger Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik.

Ein Interview von Ingo Butters

suedeutsche.de: Wie groß ist die Gefahr, dass Indien und Pakistan Atomwaffen einsetzen?

Götz Neuneck: Die Situation ist wirklich kritisch. Die Möglichkeit eines Atomkrieges ist so real wie seit der Kuba-Krise im Jahr 1962 nicht mehr. Die Stimmung in der Bevölkerung beider Staaten ist aufgeheizt. Die Staatsführer Musharraf und Vajpayee ziehen einen nuklearen Angriff in Betracht. Ich befürchte, die beiden könnten sich dermaßen in ihrer Kriegsrhetorik verheddern, dass sie die Konsequenzen nicht mehr wahrnehmen und in Situationen geraten, aus denen sie nicht mehr zurück können.

suedeutsche.de: Was wären die Konsequenzen?

Neuneck: Niemand kann die Folgen verlässlich vorhersagen. Sicher ist: Es würde Millionen Opfer geben. Schätzungen zufolge ist Indien im Besitz von bis zu 60 Atombomben, Pakistan hat zwischen 20 und 30. Sollten diese Waffen über den extrem dicht besiedelten Städten dieser Staaten abgeworfen werden, würde das Millionen töten. Außerdem würde ja nicht nur die ummittelbare Zerstörung durch die Bombenexplosion verheerende Schäden anrichten.

suedeutsche.de: Sondern?

Neuneck: Atomkraftwerke, chemische Fabriken, die durch die Detonation zerstört werden könnten, würden weitere Verwüstungen anrichten. Krankenhäuser könnten nicht mehr arbeiten, eine Massenpanik würde entstehen. Allein in Bombay leben schätzungsweise zehn Millionen Menschen - niemand kann wirklich vorher sagen, was nach einer Atombombenexplosion dort geschehen würde. Entscheidend für die Folgen ist auch, in welcher Höhe die Bombe gezündet wird: Je niedriger die Detonation, desto mehr radioaktives Material wird aufgewirbelt. Ein tödlicher Fallout wäre die Folge.

suedeutsche.de: Wieso sollte eines der beiden Länder solche Verwüstungen in Kauf nehmen?

Neuneck: Es gibt zwei Szenarien für den Ausbruch eines Atomkriegs zwischen Pakistan und Indien. Zum einen könnte ein nuklearer Angriff durch eine militärische Fehleinschätzung, eine falsche Frühwarnung ausgelöst werden. Die Flugzeiten von Raketen oder Flugzeugen zwischen den beiden Staaten sind extrem kurz - es bleibt kaum Zeit um abzuklären ob tatsächlich ein Angriff mit Atomwaffen vorliegt oder nicht. Außerdem bestehen Zweifel daran, dass die Militärs dieser Staaten überhaupt über funktionierende Frühwarnsysteme verfügen. Das heißt: Es könnte aus Versehen zu einem Atomkrieg kommen.

suedeutsche.de: Was ist das zweite Szenario?

Neuneck: Indien ist Pakistan mit seinen konventionellen Streitkräften weit überlegen. Sollte das pakistanische Regime durch einen indischen Angriff in die Enge getrieben werden, könnte es einen atomaren Angriff auf indische Städte oder Streitkräfte befehlen.

suedeutsche.de: Während des Kalten Krieges schien ein Atomkrieg nahezu ausgeschlossen - er hätte das Ende der Menschheit bedeutet. Heute dagegen scheint die Gefahr viel größer.

Neuneck: Damals verfügten Russland und die USA über ein Arsenal von etwa 70.000 Atomwaffen. Das Gleichgewicht des Schreckens, die Idee des Weltzerstörungsmechanismus machte eine Krieg mit nuklearen Waffen zur ungeheuerlichen Vorstellung. Die Zahl der Atommächte ist seitdem gestiegen - die meisten haben weder die politische noch die technische Erfahrung der beiden großen Atommächte. Stattdessen herrscht eine große Naivität gegenüber der Wirkung von Atomwaffen. Die Führer Indiens und Pakistans spielen in ihrer Rhetorik immer wieder mit der Option des Atomkriegs - man kann nur hoffen, dass aus dem Spiel nie Ernst werden wird.

suedeutsche.de: Wie kann die Bedrohung durch Nuklearwaffen - nicht nur in Pakistan und Indien - wieder minimiert werden?

Neuneck: Atomwaffen müssen - so wie biologische und chemischen Waffen - endlich geächtet werden. Man muss weiter beharrlich auf Abrüstung und Rüstungskontrolle drängen. Staaten, die im Besitz von Atomwaffen sind, muss klar gemacht werden, dass sie diese nie einsetzen dürfen. Außerdem müsste das waffenfähige Material weltweit viel besser kontrolliert werden. Allein in Russland lagern 1000 Tonnen hochangereichertes Uran. Diese enormen Lagerbestände werden auch durch die jüngsten Abrüstungsverträge nicht wirklich abgebaut. Dabei stellen diese Bestände ein gewaltiges Bedrohungspotenzial dar - in den Händen von Terroristen wären sie eine schreckliche Waffe.

suedeutsche.de: Wer sollte die Rüstungskontrolle durchsetzen?

Neuneck: Hier sind vor allem die USA gefragt. Die US-Regierung muss einsehen, dass Rüstungskontrolle ihren eigenen Interessen viel dienlicher ist als ein Raketenabwehr-Schirm oder die Entwicklung neuer Mini-Atomwaffen für den strategischen Einsatz.

suedeutsche.de: Glauben Sie, dass die nukleare Bedrohung in den nächsten Jahren verringert werden kann?

Neuneck: Man kann nur hoffen, dass die Menschheit endlich begreift, dass Nuklearwaffen niemals eingesetzt werden dürfen. Angesichts der unseligen Neigung der Menschen aus der Geschichte nicht zu lernen, fürchte ich allerdings, dass die Situation unübersichtlicher und gefährlicher wird.

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