Kabul:Schwerste Unruhen seit dem Fall der Taliban

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Die afghanische Hauptstadt profitiert am meisten von ausländischer Hilfe. Trotzdem brauchte es nicht mehr als einen Verkehrsunfall, verursacht von einem US-Militärkonvoi, um eine Explosion der Gewalt auszulösen. Die Ausschreitungen zeigen, wie verbreitet der Hass auf die Amerikaner und den Westen auch in Kabul noch ist.

Ein tödlicher Verkehrsunfall in Kabul ist nichts Ungewöhnliches in der afghanischen Hauptstadt, auf deren Straßen Anarchie und Chaos herrschen.

Doch als heute ein amerikanisches Militärfahrzeug einen Unfall verursachte, kam es zu einer Explosion der Gewalt: Kabul erlebte die schwersten Ausschreitungen seit dem Sturz der radikal-islamischen Taliban vor viereinhalb Jahren.

Mindestens acht Menschen seien getötet und 107 verletzt worden, teilte das Gesundheitsministerium mit.

Nicht nur der weit verbreitete Hass auf die USA, auch die Unzufriedenheit über die Stagnation im Lande brach sich offenbar Bahn. Die Vereinten Nationen sprachen von einer "Tragödie".

Ein defekter Lastwagen der US-Truppen hatte am Morgen in Kabul zivile Fahrzeuge gerammt. Die Soldaten leisteten nach Darstellung des US-Militärs sofort medizinische Hilfe, doch die Situation geriet außer Kontrolle.

Aufgebrachte Afghanen versammelten sich und bewarfen die ausländischen Truppen mit Steinen. Der Sprecher der internationalen Truppe, Oberst Thomas Collins, sagte, die Besatzung eines Militärfahrzeugs habe daraufhin über die Menge in die Luft geschossen.

Ein Augenzeuge berichtete dagegen, die Soldaten hätten mit ihren Maschinengewehren auf die Afghanen gehalten. Von Todesopfern sowohl bei dem Unfall als auch durch die Schüsse wurde berichtet.

"Ein tragischer Zwischenfall"

So fuhren dem Berichten von Augenzeugen zufolge drei Geländewagen in einen Stau. Ein Polizeisprecher sagte, mindestens drei Menschen seien getötet und 16 verwundet worden. "Der amerikanische Konvoi hat alle Fahrzeuge in seinem Weg gerammt. Sie kümmerten sich überhaupt nicht um die Zivilisten", sagte ein Ladenbesitzer.

Amerikanische und afghanische Truppen schossen nach Polizeiangaben danach auf Demonstranten. Ein Demonstrant sei von US-Soldaten erschossen worden, erklärten zwei Polizeisprecher.

"Dies war ein tragischer Zwischenfall", sagte Collins und sagte den afghanischen Behörden volle Unterstützung bei der Untersuchung zu. Man bedauere zutiefst, dass Menschen zu Schaden gekommen seien.

Bald nach dem Vorfall stiegen Rauchwolken über Kabul auf, rund 2000 Demonstranten zogen Richtung Innenstadt - "Tod für Amerika" skandierten sie.

Randalierende Gruppen warfen Scheiben ein und versuchten, Ausländer anzugreifen, Büros von Hilfsorganisationen wurden geplündert. Hunderte aufgebrachte Afghanen zogen zum Palast von Präsident Hamid Karsai und skandierten: "Tod Karsai! Tod Amerika!".

Einige Demonstranten steckten Polizeiautos und Wachposten in Brand. Ein AP-Reporter und ein APTN-Kameramann wurden geschlagen, blieben aber unverletzt. Viele Menschen flohen von den Straßen, Ladenbesitzer verriegelten ihre Buden,

Aus Richtung der amerikanischen Botschaft waren Schüsse zu hören, das Personal wurde an einem sicheren Platz innerhalb des stark gesicherten Gebäudes zusammengezogen, wie ein Sprecher mitteilte. Die schwer bewaffneten US-Truppen zogen sich in ihr Hauptquartier zurück.

Präsident Karsai rief zur Ruhe auf und versicherte, die Regierung werde das Möglichste zum Schutz von Leben und Besitz tun.

Die Heftigkeit der Ausschreitungen überstieg die der Proteste gegen die Veröffentlichung der Mohammed-Karikaturen im Westen zu Jahresbeginn bei weitem. Und das ausgerechnet in Kabul - jenem Ort, der in Afghanistan am meisten von ausländischer Hilfe profitiert, in dem der Wiederaufbau noch am ehesten sichtbar ist.

Eines der ärmsten Länder der Welt

Hochrangige westliche Diplomaten vor Ort räumen allerdings ein, dass es im Land "nicht richtig vorangeht". Trotz der Milliarden, die die internationale Gemeinschaft in das Land pumpte, ist Afghanistan weiterhin eines der ärmsten Länder der Welt.

Hilfsprojekte wurden oft schlampig ausgeführt, manche angebliche Hilfsorganisation dürfte sich an internationalen Mitteln bereichert haben, statt sie sinnvoll einzusetzen. Die Zahl der Arbeitslosen nimmt wegen zurückkehrender Flüchtlinge zu, gleichzeitig steigen die Preise. Behördenmitarbeiter sind oft nicht nur korrupt, sondern auch inkompetent.

Zu der antiamerikanischen Stimmung dürfte auch der Luftangriff auf das Dorf Asisi im Süden Afghanistans beigetragen haben, bei dem vor gut einer Woche mindestens 16 Zivilpersonen getötet wurden.

Und es gab bereits häufig Beschwerden über US-Militärkonvois, die mit hohem Tempo durch belebte Stadtviertel fahren und dabei mitunter Verkehrsregeln missachten. Die Streitkräfte begründeten dies mit dem Schutz vor Anschlägen.

Hinzu kommt die immer schlechtere Sicherheitslage, durch die Teile des Landes von fast jeder Entwicklung ausgeschlossen werden - hier traut sich kaum noch ein Helfer hin.

© dpa/Can Merey - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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