Jugendamt will Kosten sparen:Zurück zu Papa und Mama, zurück ins Elend

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Aus Kostengründen sollen Heimkinder wieder nach Hause - das entschied das Jugendamt der Stadt Halle. Die Stadt könne damit viel Geld sparen. Familienrechtler und Sozialarbeiter sind empört.

Felix Berth

Frühsommer 2007. In einer vermüllten Wohnung in Halle lebt ein Paar mit zwei Kindern. Die Tochter, gut zwei Jahre alt, kann weder laufen noch sprechen; der achtjährige Sohn hat noch nicht gelernt, mit Messer und Gabel zu essen.

Für die "Rückführung" der Kinder war eine Frist von vier Wochen vorgesehen - renommierte Familienrechtler halten den Erlass für skandalös. (Foto: Foto: dpa)

Die Mitarbeiter des Jugendamtes stellen fest, dass der Vater Alkoholiker ist; die Mutter scheint mit der Erziehung überfordert zu sein. Die Kinder kommen in eine kleine Wohngruppe, deren Sozialarbeiter mehrmals wöchentlich auch mit den Eltern arbeiten. Noch ein halbes Jahr sollten die Kinder in dem Heim bleiben, finden die Pädagogen.

"Rückführung" der Kinder

Doch das Jugendamt der Stadt Halle hat nun in einer Dienstanweisung festgelegt, dass möglichst viele der 314 Heimkinder in ihre Familien zurückgeschickt werden.

Amtschef Lothar Rochau verlangte im September "die Rückführung aller Kinder, Jugendlichen und jungen Volljährigen aus der Heimerziehung". In einer Tabelle rechnete er seinen Mitarbeitern die Auswirkungen vor: Würden neunzig Prozent der Kinder in ihre Familien zurückgeschickt, könnte die Stadt in zweieinhalb Monaten 2,2 Millionen Euro sparen.

Wie ernst es dem Chef war, sahen die Mitarbeiter am Zeitplan: Für die "Rückführung" war eine Frist von vier Wochen vorgesehen.

Renommierte Familienrechtler halten den Erlass für skandalös. "Eine völlig absurde Anweisung", urteilt Ludwig Salgo, Professor an der Universität Frankfurt am Main.

Familienrechtler: Der Erlass ist skandalös

"Bei einem Teil der Kinder hat schließlich ein Richter den Eltern das Sorgerecht entzogen - das darf ein Jugendamt nicht missachten." Auch Gerhard Fieseler, Professor an der Uni Kassel und Kommentator des Kinder- und Jugendhilferechts, hält die Vorschrift für unverantwortlich: "Hier soll vor allem gespart werden, und so wie das formuliert ist, kann keine Fachkraft mehr in Ruhe prüfen, was das Beste für das Kind ist."

Nachdem Lokalzeitungen über den Erlass berichtet haben, gibt sich der Chef des Jugendamtes zurückhaltend. Die Anweisung gelte "unter der Prämisse der Sicherung des Kindeswohls"; außerdem biete die Stadt Hilfe bei der "Rückführung":

"Wir haben eine Unmenge von ambulanten Systemen, darunter gute Angebote zur Familienbildung und eine hervorragend ausgebaute Kinderbetreuung", sagte Amtschef Rochau der Süddeutschen Zeitung. Vierzig bis fünfzig Kinder könnten bald in die Familien zurück; bei weiteren vierzig werde geprüft.

Die Szene der deutschen Sozialarbeiter blickt gespannt auf die Vorgänge in Halle. Denn die Kinder- und Jugendhilfe steckt im Dilemma: Einerseits verlangt die Öffentlichkeit nach Fällen wie dem Tod des zweijährigen Kevin schnelle Entscheidungen der Ämter, um gefährdete Kinder zu schützen.

Das Aufwachsen in der Familie sei "menschlicher"

Andererseits wollen die Finanzpolitiker der Kommunen sparen. Denn die Ausgaben für die "Hilfe zur Erziehung" sind laut Statistischem Bundesamt in den vergangenen zehn Jahren um fast fünfzig Prozent gestiegen. "Im schlimmsten Fall ist das, was in Halle geschieht, eine Art Pilotprojekt", sagt Johannes Herwig-Lempp, Professor für Sozialarbeit an der Hochschule Merseburg.

Halles Oberbürgermeisterin Dagmar Szabados (SPD) steht hinter ihrem Jugendamts-Chef. Es sei "menschlicher", wenn Kinder in ihren Familien aufwachsen, sagte sie dem MDR.

Szabados kann sicher sein, dass ihre Sätze aufmerksam registriert werden: Sie gehört zu den Autoren des "Kinder- und Jugendberichts" der Bundesregierung; was sie sagt, ist bedeutender als das Statement eines sparwütigen Lokalpolitikers.

© SZ vom 9.10.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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