Joschka Fischer:Der Minister des Äußersten

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Er ist wandelbar wie keiner, beliebt wie wenige und einzigartig arrogant - nun muss der Überflieger Übungen in Selbstbeherrschung machen. Die Geschichte einer Menschwerdung.

Von Nico Fried

Berlin, 22. April - Der kleine silberhaarige Mann watschelt ein wenig o-beinig durch die Gegend, den Oberkörper leicht ins Hohlkreuz gebogen, immer seinem runden Bauch hinterher.

Joschka Fischer am 22. April im Bundestag (Foto: Foto: dpa)

Die Brauen, die gerade noch flach über den Augen lagen wie zwei halb geöffnete Garagentore, schlagen plötzlich hohe Bögen in die Stirn. Und über seinem knubbeligen Kinn liegt ein breites Grinsen. Wann hat man Joschka Fischer zuletzt so zufrieden gesehen?

Soeben durfte er endlich mal wieder Außenminister sein. Die Grünen-Fraktion hatte ihm im Saal 3.101 des Marie-Lüders-Hauses eine tolle Kulisse gebaut: Hinter Joschka Fischer war auf einer großen Stellwand ein Foto der Erdkugel zu sehen, darüber das Wort "Weltinnenpolitik".

Fischer hielt ein Referat über Europa und die Welt, das mit der Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald im Jahre 1945 begann und mit der Konkurrenz zwischen China und den USA im Jahr 2050 endete. Mehr als einhundert Jahre in etwa einer dreiviertel Stunde. Der ganz große Bogen.

Schon mal Temperatur gefühlt und Akustik getestet

Zwischendurch verließ Fischer noch kurz den Saal und nannte die Wahl von Joseph Ratzinger zum Papst einen Anlass zur Freude. Jetzt steht er da, schnarrt ein, zwei Scherze und strebt dann dem Ausgang entgegen. Es war ein Abend fast wie früher.

Man könnte auch sagen, es war eine Generalprobe. Joschka Fischer hat schon mal die Temperatur gefühlt und die Akustik getestet. Denn wie es der Zufall will, wird Fischer am Montag noch einmal genau in denselben Saal zurückkehren.

Der Bundesminister des Auswärtigen ist als Zeuge im Untersuchungsausschuss geladen. Wo er am vergangenen Mittwoch mit dem amerikanischen Publizisten Jeremy Rifkin über den Unterschied zwischen Europa und den USA diskutierte, werden am Montag die Unions-Abgeordneten Hans-Peter Uhl und Eckart von Klaeden sitzen, in Akten blättern, E-Mails verlesen, listige Fragen stellen.

Formal ist das Thema der Visa-Missbrauch. In Wahrheit steht für Joschka Fischer sein Amt auf dem Spiel. Und weil an ihm eine ganze Regierung hängt, geht es sogar noch um ein bisschen mehr als ihn. Wüsste man es nicht besser, man könnte auf die Idee kommen, Fischer habe diesen Showdown selbst arrangiert. Er mag es, wenn's ums große Ganze geht.

Fischer beim Dehnen in Nizza während des EU-Gipfels im Jahre 2000 (Foto: Foto: dpa)

In Wahrheit jedoch hätte Fischer den Tag lieber ziemlich lange hinausgezögert, an dem er hier auf einem schwarzen Ledersessel Platz nehmen wird. Jene Ratgeber, die juristisch dachten, unterstützten ihn. Eine frühe Aussage könne gefährlich sein.

Jene Ratgeber, die politisch dachten, widersprachen ihm. Um den Eindruck zu vermeiden, er habe etwas zu verbergen, müsse er noch vor der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen aussagen. Was nun, Herr Außenminister?

Wie Zucker im Kaffee

Joschka Fischer ist oft als Instinktpolitiker beschrieben worden. Menschen, die ihn gut kennen, sagen, das sei nur die eine Seite. Denn bisweilen wäge er das Für und Wider einer Entscheidung endlos ab, treibe jeden Gedanken noch durch die letzte Gehirnwindung. So war es in der Visa-Affäre. Fischer traute sich selbst nicht mehr.

Erst war er skeptisch, hoffte, die Affäre werde abebben. Vor Ostern neigte er plötzlich zu einer schnellen Aussage. Kurz darauf fiel er noch mal um. Im Urlaub entschied er sich wieder anders. Dann erst blieb er dabei.

Die Gewissheit über den sicheren Instinkt des Joschka Fischer ist nicht die einzige, die sich in den vergangenen Wochen aufgelöst hat wie ein Stück Zucker im Kaffee. Es hatte immer auch eine Art Commonsense gegeben, dass Fischer mehr noch als Gerhard Schröder der Politiker mit der größten Begabung zur Selbstinszenierung sei.

Die einen hat das beeindruckt, die anderen hat es angewidert. Niemand war von dieser Fähigkeit übrigens so überzeugt wie Fischer selbst. Mittlerweile sind es schon Jahrzehnte, in denen er im Bundestag immer wieder erlebt hat, dass er als klarer Sieger aus einer Redeschlacht ging.

"Wenn ich mich da vorne hinstelle", schwärmte Fischer einmal über Fischer, mit den Armen einen Tiefflieger imitierend, "dann ziehen die alle schon die Köpfe ein."

Nun aber gelang es Fischer plötzlich nicht mehr, mit seinem Auftreten als Person seine Fehler in der Politik zu überspielen. Das Scheitern ist dokumentiert: Vor ein paar Wochen fiel Fischer in einer Umfrage von Platz eins in der Beliebtheitsskala.

"Er würde es nie zugeben, aber das tut ihm weh", sagte schon damals ein Vertrauter. Inzwischen ist er sogar auf Rang vier gerutscht - noch hinter Gerhard Schröder.

Wie konnte das nur passieren?

Joschka Fischer und die Visa-Affäre, das ist auch "die Geschichte einer Menschwerdung", sagt jemand aus seiner Umgebung. Und in diesem Fall ist das als die Beschreibung eines Abstiegs gemeint. Der Mann, der die Erfolge der Grünen garantiert hatte, wurde zu deren Problem.

Er zog seine Partei nicht mehr, sie schleppte ihn, selbst lädiert, nur noch mit. Die Medien, deren Liebling er immer war, die mit ihm im Wortsinne durch dick und dünn und wieder zurück gegangen sind, schlugen fast geschlossen auf ihn ein.

Selbst im Auswärtigen Amt, dem Hort deutscher Beamtenloyalität, wagten sich seine Gegner aus der Deckung. Viele Jahre war Joschka Fischer allein in seiner Einzigartigkeit - plötzlich war er fast nur noch allein. Es wird berichtet, er habe zuletzt ein gewisses Bedürfnis nach menschlicher Nähe gezeigt.

2001 hing er schon einmal in den Seilen

Joschka Fischer hat schon viele Niederlagen erlitten. Und er war stolz darauf. "Ich habe oft gegen die Parteitagsmehrheit gestanden", hat er einmal gesagt, "aber meistens mit der Mehrheit der Wählerinnen und Wähler." Der Ansehensverlust, den er jetzt einstecken musste, soll ihn sehr nachdenklich gemacht haben.

Selbst wenn Fischer am Montag im Ausschuss den Spieß noch einmal umdreht, könnte es sein, dass er die Welt da draußen mit anderen Augen sieht. Sein schlechtes Benehmen, seine Besserwisserei, seine Arroganz waren immer auch Teil des Markenartikels Joschka Fischer. Nun aber ist er um die Erfahrung reicher, dass auch die anderen verdammt ekelhaft sein können.

2001 hing Joschka Fischer schon einmal in den Seilen. Es waren Bilder aus seiner Vergangenheit als Schläger in Frankfurt aufgetaucht. Erst kokettierte er mit seinen Raubauz-Geschichten. Dann geriet er unter Druck, leistete sich Ungenauigkeiten und Fehler.

Die Visa-Affäre ist den Geschehnissen von 2001 in manchen Details so verblüffend ähnlich, als handele es sich um ein Remake. Erst unterschätzte Fischer das Problem. Dann glaubte er, die Affäre quasi nebenbei wegquatschen zu können - und machte, wie damals, alles nur noch schlimmer.

Man kann anhand dieser Parallelen vielleicht besser einschätzen, was in diesen Wochen in Joschka Fischer vorgehen mag. In dem Dokumentarfilm Im Rausch der Macht hat er sich an diese Zeit zurückerinnert: "Ich wusste von Anfang an, was da auf mich zukommen wird. Aber umgekehrt fragt man sich dann auch: Gibst du jetzt auf? Und man entscheidet das mit Nein."

Der Minister pampte zurück

Es ist wohl kein Zufall, dass Fischer jede politische Auseinandersetzung immer zu einem großen Kampf stilisiert. Es ist das letzte Überbleibsel aus jener Zeit als Frankfurter Straßenkämpfer, die 2001 in Rede stand.

Im Januar, nachdem Fischer sich auf dem Trottoir vor der Parteizentrale der Grünen das erste Mal zur Visa-Affäre geäußert hatte, rief ihm ein Reporter noch die Frage hinterher, warum er nicht zurücktrete. Der Minister pampte zurück: "Das würde Ihnen so passen." Ein Joschka Fischer lässt sich nicht vom Hof jagen.

Im Wahlkampf 2002, als er sich mit zunehmender Erschöpfung von einem Auftritt zum nächsten schleppte, hing Fischer einmal in einem Sitz seines Tourbusses. Zwei Reden vor Tausenden Menschen hatte er schon gehalten, eine stand ihm noch bevor. Damals erzählte der Außenminister, dass er sich regelrecht nach Zwischenrufen aus dem Publikum sehne.

Es putscht diesen Mann auf, wenn ihn einer als "Kriegstreiber" beschimpft. Fischer braucht Menschen, an denen er sich abarbeiten kann. So war es, als er den damaligen Bundestagspräsidenten Richard Stücklen als junger Abgeordneter ein Arschloch nannte. So war es, als er sich 2003 auf der Münchner Sicherheitskonferenz echauffierte und dem US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld wegen der Irak-Politik sein legendäres "I'm not convinced" - ich bin nicht überzeugt - entgegenschmetterte.

Dutzende Kilo runter, dutzende Kilo wieder drauf

So war es auch 2001. Fischer war gerade mal etwas mehr als zwei Jahre an der Macht. Die Steinewerfer-Debatte war aus seiner Sicht der Versuch des konservativen politisch-publizistischen Komplexes, die verlorene Bundestagswahl noch einmal umzudrehen.

Damit aber stand die Ehre einer ganzen Generation auf dem Spiel. Das war eine Herausforderung nach seinem Geschmack. Der Angriff wurde zurückgeschlagen.

Es sind diese Extreme, die Fischer antreiben. Kein Wunder, dass er in Berlin nicht Bundesminister des Auswärtigen genannt wird, sondern Bundesminister des Äußersten. Vier Ehen. Dutzende Kilo runter, dutzende Kilo wieder drauf. Einer wie Fischer joggt nicht, er läuft Marathon.

Das ist die private Seite, die nie wirklich privat blieb, weil sie mit seiner politischen Seite eins zu eins korrespondierte.

Vom Schläger zum Demokraten. Vom Pazifisten zum Kriegsherrn. Fischer tut gerne so, als geschehe die Vermischung von Privatleben und Politik gegen seinen Willen. Aber wirklich gewehrt hat er sich selten dagegen.

Auf die Frage, warum er sein Buch Mein langer Lauf zu mir selbst noch veröffentlichte, als er schon Minister war, gab er einmal die wenig überzeugende Antwort: "Ich hatte den Vertrag schon vor der Bundestagswahl unterschrieben."

Das einzige Extrem in der Visa-Affäre bestand allerdings zunächst darin, dass Fischer extrem lange brauchte, um sich einen Überblick zu verschaffen. Er suchte wieder nach einem klaren Gegner, diesmal aber ohne Erfolg - es waren zu viele.

Es mag auch an der Fallhöhe gelegen haben. Im Januar, als die Affäre Fahrt aufnahm, hatte Fischer gerade die Folgen des Tsunami zu bewältigen, der in Asien auch Hunderte deutsche Urlauber in den Tod gerissen hatte. Tag für Tag leitete er die Sitzungen des Krisenstabes.

Aus den ermüdeten Gesichtern liest er seinen Sieg

Das Auswärtige Amt funktionierte perfekt. Der Minister konnte sehr zufrieden sein. Und er war es auch. Fischer hatte wieder einen Gipfel erreicht. Wahrscheinlich war er zu weit oben, um wahrzunehmen, wie unten im Tal ein paar Abgeordnete mit immer neuen Zutaten ein für ihn höchst unbekömmliches Gebräu anrührten.

Es dauerte Wochen, bis Fischer die Vorgänge für sich gedeutet hatte. Sein Satz von der Trottoir-Pressekonferenz vor der Grünen-Zentrale, wonach er für etwaige Fehler seiner Beamten die politische Verantwortung übernehme, war kein Missverständnis, wie Fischer heute sagt.

Dieser Satz war die Wahrheit, so wie er sie damals sah. Der Gedanke, er könnte einen Fehler gemacht haben, blieb Fischer lange fremd. Das änderte sich im Februar. Und das sicherste Indiz für seinen Erkenntnisgewinn war, dass er wieder mehr mit Journalisten redete.

In solchen Gesprächen arbeitet Fischer wie ein Radargerät: Er sendet Signale aus und wartet, wie sie zurückgeworfen werden. Wenn er auf alles eine Antwort weiß, liest er aus den ermüdeten Gesichtern seinen Sieg. Ist er aber von sich nicht überzeugt, weicht er aus oder macht sich lustig.

Sich selbst zum Gegner

Schlimmstenfalls kanzelt er den Frager ab. Es hilft dann, den Rat eines Mannes zu beherzigen, der Fischer einmal sehr nahe stand: "Je mehr er Sie anschnauzt, desto mehr können Sie annehmen, dass Sie Recht haben."

Fischers Verhältnis zu Journalisten hat in diesen Wochen wohl am meisten gelitten. Von Racheakten war die Rede, von der Freude daran, endlich auch einmal den Außenminister am Boden zu sehen. Fischer und die Journalisten, das war immer schon eine komplexe Beziehung zwischen Anziehung und Abstoßung.

Kein anderer hoher Politiker hält so gerne Schwätzchen im Bundestag oder vor dem Saal der Grünen-Fraktion. Auf Reisen verbringt Fischer Stunden mit mitreisenden Journalisten, selbst wenn er ihnen gar nichts erzählen will.

Von keinem anderen aber fühlten sich auch so viele so schlecht behandelt. Fischer kann charmant sein, witzig, ja faszinierend. Aber er kann auch brutal sein.

Auf einem Flug von Washington nach Berlin holzte er einmal minutenlang gegen einen Journalisten, seine Berichte, seine Zeitung, einfach alles. Der Kollege wehrte sich tapfer, was Fischer nur noch mehr anstachelte.

Zur Wahrheit gehört aber auch, dass ein gutes Dutzend weiterer Journalisten betroffen daneben stand - und schwieg, auch dieser Reporter.

Ein guter Bürokrat

Am Montag ist es so weit. Aus dem Auswärtigen Amt wird berichtet, Fischer mache Übungen zur Selbstbeherrschung. Sollte der Minister dabei die Augen schließen, stellt er sich vermutlich Hans-Peter Uhl vor, den Ausschussvorsitzenden, der schon lange vor der Visa-Affäre für Grüne eine Hassfigur war.

Oder Eckart von Klaeden, den Obmann der CDU. Den kennt Fischer aus der Steinewerfer-Affäre. Die Fragen des braven Juristen waren für Fischer damals ein einziger aufputschender Zwischenruf. Als Fischer in Frankfurt Häuser besetzte, war Klaeden gerade geboren. Es war ein ungleiches Duell. Diesmal muss er wenigstens so tun, als nehme er ihn ernst.

Wenn man so will, hat sich Fischer auch wieder einen klaren Gegner ausgesucht: sich selbst. Er will, berichten Wissende, sein Image vom abgehobenen Weltstaatsmann ohne Sinn für Akten und Details widerlegen. Joschka Fischer will ein guter Bürokrat sein.

© SZ vom 23.04.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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