Jerusalem-Tagebuch (2):Der Kampf der Mauerfrauen

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Sie wollen, dass Gleichheit herrscht an der Klagemauer, dem heiligen Ort des Judentums: dass Frauen hier genauso wie die Männer den Tallit, den Gebetsschal, tragen und beten können.

Jerusalem, die Stadt des Friedens, ist umkämpft seit ewigen Zeiten. In der Woche vor dem Oster- und dem Pessachfest zeigen die Fotografin Alessandra Schellnegger und SZ-Korrespondent Peter Münch in einem Tagebuch, wie in dieser Stadt gelebt, gebetet, gefeiert wird. In der zweiten Folge besuchen sie die Klagemauer.

Die Morgensonne taucht die Klagemauer in gleißendes Licht, und Anat Hoffman macht sich fertig zum Gebet. Kurz sammelt sie sich, dann legt sie den weißen Schal mit den feinen Stickereien um die Schulter - und siehe da: Nichts passiert.

Kein Gezeter und Geschrei, kein Schimpfen und kein Spucken. Es fliegen keine Eier und nicht einmal die Polizei taucht auf, um sie zu verhaften. "Das ist ein Fortschritt", sagt Anat Hoffman. Seit 27 Jahren kommt sie mit ihren Mitstreiterinnen von den "Women of the Wall" zur Klagemauer - zum Beten und zum Kämpfen. "Wir waren unverheiratete Frauen, als wir anfingen, nun sind wir Großmütter", sagt sie. 60 Jahre und kein bisschen leise, denn sie will erreichen, dass Gleichheit herrscht an diesem hochheiligen Ort des Judentums: dass Frauen hier genauso wie die Männer den Tallit, den Gebetsschal, tragen können, dass sie aus der Thora lesen und laut singen dürfen.

Doch für die orthodoxen Herren der Schöpfung ist das eine Provokation, nein: ein Frevel. Sie pochen auf die angeblich von Gott gewollte Ordnung, die sich an der Klagemauer in strikter Geschlechtertrennung manifestiert - links ist viel Platz für die Männer, rechts vom Bretterzaun drängen sich die Frauen vor den 18 Meter hohen Kalksteinquadern, die in biblischen Zeiten den westlichen Befestigungswall des jüdischen Tempels bildeten. Die Frauen haben still zu sein und unauffällig, so hat es der für die Klagemauer zuständige Rabbiner festgelegt, und ein paar Richter haben das bestätigt. Wenn das nicht reicht, um Anat Hoffman und die anderen abzuschrecken, dann verwandeln die frommen Eiferer den Platz vor der Mauer gern auch mal in ein Schlachtfeld.

Doch Steinchen für Steinchen gerät die Männerbastion ins Wanken. Die Regierung hat sich eingeschaltet, Kommissionen wurden gebildet, Pläne geschmiedet. Überdies hat Anat Hoffman kräftige Unterstützung gewonnen aus den USA, wo die meisten Juden liberaleren Strömungen angehören. Auf ihrem Handy zeigt sie ein Foto mit der amerikanischen Komikerin Sarah Silverman. "Sie hat mit uns an Chanukka an der Klagemauer die erste Kerze entzündet", sagt sie. Doch noch wichtiger als dieses Bild ist ihr eine Schwarz-weiß-Aufnahme, die sie in ihrer Tasche mit sich trägt. Sie zeigt die jungen Fallschirmjäger, die 1967 bei der Eroberung der Altstadt als Erste zur Klagemauer vorgedrungen waren. "Diese Soldaten haben sich jetzt mit uns solidarisch erklärt", sagt Anat Hoffman, "zusammen wollen wir die Klagemauer jetzt ein zweites Mal befreien."

© SZ vom 31.03.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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