40 Jahre Reformpolitik in China:Zündende Idee verzweifelter Bauern

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Zwei Jahre nach Maos Tod begann Deng Xiaoping 1978 die Öffnung. Vier Jahrzehnte des Wirtschaftswachstums folgten.

Von Christoph Giesen, Peking

Sie trafen sich im größten Haus ihres Dorfs in der bitterarmen Provinz Anhui. 18 Bauern aus Xiaogang, und sie planten eine Verschwörung. Sollte die Polizei einen schnappen, ein Gericht gar Todesstrafe verhängen, würden sie sich um die Kinder der Verurteilten kümmern, so hielten sie in geheimer Vereinbarung fest. Ende 1978 war das, vor 40 Jahren. Alle 18 unterzeichneten den Vertrag. Sie einigten sich, das Gemeindeland nicht mehr als Brigade zu bewirtschaften, sondern ein jeder seine eigene Parzelle. Die staatlich geforderte Quote an Getreide und Gemüse wollten sie weiter abliefern, den Überschuss aber behalten - es ging ums Überleben: In den Vorjahren hatten sie schlechte Ernten, Angst vor dem Hungertod trieb sie zum Verrat.

In den 50er Jahren hatte die Führung in Peking die Kollektivierung der Landwirtschaft angeordnet. 1958 rief Mao Zedong das Land zum "Großen Sprung" nach vorn auf. Es wurde ein Satz ins Desaster. "Genosse Chruschtschow sagte uns, die Sowjetunion werde in 15 Jahren die USA überholen", erklärte Mao. "Ich kann auch sagen, 15 Jahren später können wir Großbritannien einholen oder übertreffen." Sein Maß: die Stahlproduktion. Statt auf den Feldern zu arbeiten, schmolzen Chinas Bauern auf Pekings Anordnung ihre Werkzeuge, Töpfe und Pfannen in primitiven Öfen ein. Das Land aber hungerte. 45 Millionen Chinesen starben damals, schätzen Forscher.

Zu Maos Lebzeiten wäre es den 18 Bauern wohl schlecht ergangen, doch Mao starb 1976, und die neue Führung in Peking mit Deng Xiaoping an der Spitze suchte Wege, die Wirtschaft zu reformieren.

Erst sprach sich in den nächsten Dörfern herum, was die Bauern in Xiaogang vereinbart hatten, bald erfuhr es die Regierung. Statt die Verschwörer zu bestrafen, trat am 18. Dezember 1978 das dritte Plenum des elften Zentralkomitees zusammen. Rückblickend war es der Startschuss für Chinas Öffnungspolitik. Sie machte aus einem der ärmsten Länder der Welt die zweitgrößte Volkswirtschaft. Das Plenum unter Dengs Führung ordnete die Dekollektivierung an. Die Verbrecher aus Xiaogang waren plötzlich gesetzestreu. Gleich im ersten Jahr steigerten sie die Weizenernte ihres Dorfes von 15 auf 95 Tonnen.

Stein um Stein vorantasten, war das Prinzip des neuen Vorsitzenden

Deng beschrieb seine Öffnungspolitik bildreich: Er versuche den Fluss zu überqueren, indem er vorsichtig nach Steinen im rauschenden Wasser taste. Wer zu rasch ans andere Ufer will, scheitere. Russland soff ab. Boris Jelzin führte über Nacht die Marktwirtschaft ein. Das Resultat war verheerend - das Inlandsprodukt sank von 1993 bis 1998 jährlich um 5,5 Prozent. Millionen Russen waren plötzlich arm und arbeitslos, wenige unfassbar reich.

Dengs Steinsuche wurde von der KP längst in den Rang einer Theorie erhoben, die an Schulen gelehrt wird; wer Uni-Examen bestehen will, muss Deng studiert haben. Im Kern ist es nur gesunder Pragmatismus: Erst ein Pilotprojekt in einer Stadt, funktioniert es, wird es in einer Region ausprobiert, schließlich im ganzen Land. Als Deng Chinas Wirtschaft wieder an den Weltmarkt koppelte, lebten mehr als 80 Prozent der Chinesen auf dem Land. Die Bauern wurden bald zu Arbeitern. Deng genehmigte lokalen Behörden, ländliche Gemeinschaftsfirmen zu gründen. Aus Bürgermeistern wurden Manager. Diese Kleinbetriebe waren Wachstumsmotor bis Mitte der 90er Jahre. Als erfolgreich erwies sich auch das Festhalten an staatlicher Planwirtschaft; Deng modifizierte sie nur. Weiter mussten Bauern und Fabriken Quoten erfüllen zu einem festen Preis; war die Vorgabe erreicht, wurde der Preis liberalisiert. Diese simple Reform stimulierte die Landwirtschaft und steigerte die Produktion. Zwischen 1981 und 1990 veränderte der Staat etwa die Stahlquote kaum, doch die Produktion verdoppelte sich.

Später kamen ausländische Direktinvestitionen hinzu. Kein Land zieht seither so viele an, keiner verhandelt so geschickt wie die Chinesen. Wer im Land produzieren wollte, musste erst mit einer chinesischen Partnerfirma ein Joint Venture eingehen. Die Gewinne wurden geteilt, mussten aber großteils im Land bleiben. Folge: weitere Investitionen. Deng Xiaopings Reformen bescherten China 40 Jahre Wachstum. Nun dräut Handelskrieg mit den USA, Ausgang ungewiss.

© SZ vom 19.12.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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