Italien vor den Parlamentswahlen:Es regnet alte Floskeln

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Im Wahlkampf hat es Gutmensch Walter Veltroni schwer, denn sein selbstverliebter Rivale Berlusconi stilisiert sich wieder einmal als Retter der zerrütteten Nation.

Stefan Ulrich, Rom

Er ist wieder da. Drei Stunden lang haben die Menschen in der frühlingsfrischen Nachmittagssonne auf der Piazza della Rotonda vor dem Pantheon in Rom gewartet, Eis geschleckt, Rockbands gelauscht, Vorredner ertragen und ihre Fahnen mit der Aufschrift "Berlusconi Presidente" spazieren getragen. Gegen sechs Uhr am Samstagnachmittag braust dann, alles Brunnenrauschen und Taubengurren übertönend, das neue Lied der italienischen Rechten über die Piazza. Es ist eine dramatisch anschwellende Hymne, die immer wieder in dem Refrain gipfelt: "Presidente siamo con te-menomale che Silvio c'è." Übersetzt bedeutet das in etwa: "Ministerpräsident, wir stehen auf dich - Gott sei Dank, dass es Silvio gibt."

"Ich küsse Euch alle - vor allem die jungen Frauen", ruft Silvio Berlusconi der Menge in Rom zu. Er steht vor seinem dritten Wahltriumph. (Foto: Foto: AFP)

Plötzlich steht er auf der Bühne. Berlusconi, Silvio, der kleine Cavaliere, die fleischgewordene Größenphantasie von Abermillionen Italienern. Der 71 Jahre alte Mann im dunklen Sakko und schwarzen offenen Hemd wölbt die Brust nach vorn, greift sich mit den Händen ans Revers, knipst sein frechstes Siegerlächeln an und brüllt hinein in die Masse: "Steigt hier die Party?" Der Jubel seiner Fans hindert den Führer des Wahlbündnisses "Volk der Freiheit" am Weitersprechen. Schließlich wirft er die Hände hoch und ruft in mokanter Ergebenheit: "Ich muss also wieder Ministerpräsident werden."

Ein paar Tage vorher, ein paar hundert Kilometer weiter nördlich: Im Teatro Giacosa des Bergstädtchens Aosta klingt die Wahlhymne der italienischen Linken auf. "Mi fido di te", "Ich vertraue dir", heißt der Hit des Liedermachers Jovanotti. Ein Mann im blaugrauen Anzug mit runder Intellektuellenbrille, grauen, zerstrubbelten Haaren und leicht eingedellter Nase steht auf der Bühne, wippt von einem Bein auf das andere und knetet seine Hände. Kurz darauf sagt er mit seiner ruhigen, sonoren Stimme: "Die Zeit der Gags und des Gezänks ist vorbei." Italien müsse sich entscheiden, ob es ein normales europäisches Land werden wolle oder so weitermache wie in den vergangenen 15 Jahren.

Munkeln und mauscheln

Der Redner heißt Walter Veltroni. Er ist 52 Jahre alt, Ex-Kommunist, Ex-Sozialist, Spitzenkandidat der im vergangenen Jahr gegründeten unideologisch-moderaten Demokratischen Partei und selbsterklärter Protagonist des "Neuen" in der italienischen Politik. Eingängig wie ein rhetorisch begabter Politikprofessor erklärt er seinen Zuhörern die Mängel des Landes: die aufgeblähte Politikerkaste, die niedrigen Löhne, die schwache Infrastruktur, den Frust der Bürger, die Stagnation. Er appelliert an den Gemeinschaftsgeist und an den Stolz der Italiener "auf dieses herrliche Land mit seinen wunderbaren Menschen". Dann meint er: "Doch Italien hat sich selbst ein bisschen verloren in letzter Zeit und muss sich wiederfinden." Auf diesen Weg will Veltroni sein Land führen. Doch dafür müsste er Berlusconi schlagen.

Italien hat die Wahl am kommenden Sonntag und Montag. Es kann sich für den Medienunternehmer Berlusconi entscheiden, der seit seinem Einstieg in die Politik 1994 zum fünften Mal antritt und jetzt zum dritten Mal Ministerpräsident werden könnte - eine ungewöhnliche Karriere in einer westlichen Demokratie. Es kann aber auch Veltroni küren, der in den vergangenen Jahren Bürgermeister von Rom war und sich nun als der "neue Mann" in der nationalen Politik präsentiert.

Die beiden Kandidaten könnten kaum unterschiedlicher sein. Hier der flamboyante, umtriebige, selbstverliebte Multimilliardär Berlusconi, der seit Jahren virtuos die Doppelrolle des Casanova und des Caudillo mimt. Sein Berufsziel, heißt es, sei das Amt des Staatspräsidenten, später einmal. Dort der dezente, schöngeistige und kunstsinnige Veltroni, ein Romanautor und studierter Cineast, der in Rom den Bürgerkönig gab und nun zum Bruder Ministerpräsident aufsteigen möchte. Nach der Politik will er erklärtermaßen Entwicklungshelfer in Afrika werden. Doch die beiden Kontrahenten, der Machtmensch und der Gutmensch, haben auch einiges gemeinsam: unbändige Energie, die Gabe der Rede und die Kenntnis aller Kniffe der Politik.

In Italien wird gemunkelt, Berlusconi und Veltroni schätzten sich insgeheim und arbeiteten verdeckt zusammen, um den vielen kleinen Parteien des Landes den Garaus zu machen. Manche behaupten, bei knappem Wahlausgang gebe es eine große Koalition. Dann werde ein Hybride namens "Veltrusconi" regieren. Doch das wird von den Spitzenkandidaten heftig dementiert. Berlusconi versichert, er werde ohnehin haushoch gewinnen. Die Meinungsumfragen nähren seine Zuversicht. Danach liegt das "Volk der Freiheit" etwa sechs bis acht Prozent vor den Demokraten.

Zu Beginn des Rennens sah es sogar noch schlechter für Veltroni aus. Nach dem Sturz der linken Koalitionsregierung unter Romano Prodi im Januar hätte kein Italiener auch nur eine alte Lira auf den neuen linken Kandidaten Veltroni gewettet. Zu unpopulär hatte sich die permanent zerstrittene Ein-Dutzend-Parteien-Regierung Prodis in den zwei Jahren ihrer Herrschaft gemacht. Der brummige Prodi ist geradezu zum Synonym für den Frust der Menschen geworden, für hohe Steuern, Inflation, mickrige Renten und Müllberge in Neapel. Das ist ungerecht, da Prodi beispielsweise bei der Haushaltssanierung einiges erreichte und da die von 2001 bis 2006 untätige Vorgängerregierung unter Berlusconi mindestens genauso schuld an der Misere Italiens ist. Aber wer sagt, dass Politik gerecht ist, zumal, wenn einer der Kontrahenten das Privatfernsehen beherrscht?

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Veltroni jedenfalls sah sich einer unmöglichen Mission gegenüber, als er die Spitzenkandidatur übernahm und seinen Wahlkampf plante. Ihm war klar, womit ihm sein Gegner Berlusconi zusetzen würde: mit den Fehlern der Regierung Prodi, mit der Zerstrittenheit des Linksbündnisses, das von Kommunisten bis zu Christdemokraten reichte, mit einer vorgeblichen Wirtschaftsfeindlichkeit der Linken, mit mangelndem Patriotismus und fehlender Erneuerungskraft. Veltroni sah, dass er keine Chance hatte, und beschloss, sie zu nutzen. Seiner verzagten Demokratischen Partei verhieß er "die größte Aufholjagd der Geschichte".

Sein Rivale Walter Veltroni hingegen tourt durch das Land, um sich als "der neue Mann" zu präsentieren. (Foto: Foto: AP)

Dies war mehr als nur Rhetorik: Veltroni machte sich daran, das in Aberdutzende Gruppen zerfallene Parteiensystem zu lichten. Als Erstes kündigte er der radikalen Linken, den Kommunisten und den in Italien sehr linken Grünen das Koalitionsbündnis auf. Seine Demokraten würden fortan allein als "nicht linke Reformpartei" antreten, verhieß er. Die Zeit der Ideologien sei vorbei. "Wir werden nicht den Reichtum, sondern die Armut bekämpfen", versicherte er. Auf den Kandidatenlisten der Demokraten für die Parlamentswahl präsentierte er neben Arbeitern, vielen jungen Leuten und Frauen auch Unternehmer des reichen Nordens, die bislang völlig unverdächtig waren, die Linke zu unterstützen.

Als Nächstes distanzierte sich Veltroni von der bisherigen Regierung, als litte diese an Aussatz. Prodi, dem behäbigen Übervater der Linken, legte er nahe, sich aus dem Wahlkampf herauszuhalten. Seither wirkt der amtierende Premier wie von einer Erdspalte verschluckt. Sodann machte sich Veltroni auf eine Gewalttour durch alle 110 Provinzen von Bozen bis Palermo, die in der Geschichte des Landes wohl einmalig ist. Sein Ziel: Er will aus dem goldenen Käfig der im Land verachteten römischen Politikerklasse ausbrechen und auf alle Bürger zugehen, um die Stimmung pro Berlusconi doch noch zu kippen.

So kam es, dass sich seit einigen Wochen zwei seltsame, knallgrüne Gefährte wie riesige Raupen aus einem Science-Fiction-Film durch die verschachtelten Altstädte der italienischen Orte winden. Die beiden voluminösen Wahlkampfbusse mit den fühlerartigen, langen Außenspiegeln enthalten alles, was Veltroni auf seiner 8000 Kilometer langen Italienreise braucht: Computerarbeitsplätze, Großbildschirme, ein Ruhebett und eine Menge Journalisten, die jeden Satz von Walter - sprich "Vuolte" -, wie der Kandidat familiär genannt wird, unters Fernseh- und Zeitungsvolk bringen.

Wenn die Busse halten, wartet schon ein Pulk von Lokalpolitikern und Neugierigen auf den Matador, der sogleich alle umarmt und küsst, um dann im Eilmarsch zur Rednerbühne zu stürmen. Zur eigenen Überraschung gelingt es Veltroni auch im reichen italienischen Norden, der für die Linke bislang eher feindliches Land war, Plätze und Hallen zu füllen. Auch das Theater in Aosta ist an diesem Morgen bis auf den letzten Sessel besetzt.

Flöten und spotten

Veltroni spricht frei und lobt wie immer zunächst die lokalen Vorzüge, in diesem Falle die Schönheit der Bergwelt. Dann erläutert er sachlich und nahezu ohne jede Spitze gegen den politischen Gegner sein Programm. Es sieht höhere Löhne, geringere Steuern, bessere Bildung, Infrastruktur und Schulen vor und klingt verlockend, auch wenn nicht recht deutlich wird, wie das alles finanziert werden soll. Die Großrichtung aber wird klar. "Dieses Land hat bislang nie eine Partei wie die deutsche SPD, die US-Demokraten oder die britische Labour-Party gehabt. Nun ist es soweit." Wer seine Demokraten wähle, stimme für radikale und zugleich soziale Reformen. Dann verkündet der Kennedy-Fan und -Biograph, wie sehr er sein Land liebe. Wie zum Beweis steht auch hier eine Nationalflagge neben Veltronis Bühne. Auch hier stimmt der Kandidat am Ende seiner Kundgebung die Nationlhymne an: "Fratelli d'Italia". In Sachen Patriotismus wird er der Rechten keine Angriffsflächen bieten.

Die ideologiefreie Aufbruchstimmung Veltronis und seine versöhnliche Art kommen an im Lande. Vielleicht sind es viele Italiener nach 15 Jahren bösartiger Auseinandersetzung zwischen Rechten und Linken tatsächlich leid, sich zu massakrieren. Veltronis Abstand zu Berlusconi verringerte sich. Ein Sieg aber erscheint unwahrscheinlich. "Er wird es jetzt nicht schaffen, aber er ist der Mann der Zukunft", flüstert eine junge Frau im Theater von Aosta. Auf der Weiterfahrt im Walter-Mobil räumt auch eine Mitarbeiterin Veltronis ein, Berlusconi werde nochmals gewinnen. Danach aber, spätestens bei der nächsten Wahl 2013, sei Veltroni am Zug. Für ihn gehe es darum, ein starkes Ergebnis von mehr als 35 Prozent der Stimmen zu bekommen, um sich als Führer der Demokraten zu behaupten.

Am Abend eines langen Tages mit vier Reden in vier Städten fällt der rastlose Walter auf dem Schlossplatz von Turin ein. 10.000 Menschen warten auf ihn, doppelt so viele wie bei der Veranstaltung Berlusconis, versichern Veltronis Leute. Wie überall begrüßen hübsche junge Frauen den Kandidaten mit Küsschen auf der Bühne. "Wir entdecken durch Walter die Schönheit der Politik", flötet die eine. Die andere spottet: "Und wir wissen, dass es nicht die Lösung ist, die Söhne Berlusconis zu heiraten." Der Cavaliere hatte in einer Fernsehsendung jungen Frauen ohne festen Job, die eine Familie gründen wollen, geraten, einfach einen seiner Söhne zu ehelichen. Pier Silvio Berlusconi erhielt daraufhin Hunderte Anträge.

Veltroni findet die Witzchen seines Gegners angesichts der sozialen Misere im Lande geschmacklos. Und er suggeriert bei fast jedem Auftritt, der 20 Jahre ältere Berlusconi sei ein Auslaufmodell, dem die Kraft ausgehe. Dabei vermeidet er es peinlichst, den Namen des Kontrahenten zu nennen. Er spricht stets nur vom "Hauptvertreter des gegnerischen Lagers". Auf die Frage, ob Aberglauben mitspiele, meint Veltroni: "Nein, das ist nur eine symbolische Geste." Ihm gehe es darum, der seit 15 Jahren währenden hasserfüllten Auseinandersetzung zwischen Berlusconi und der Linken zu entkommen.

Für den Cavaliere ist dieser friedensreiche, smarte Kuschelrevolutionär Veltroni schwer zu packen. Denn Berlusconi braucht die Zuspitzung, die Polemik, die Kommunistenjagd, um seine ganze agitatorische Größe zu entfalten. Was soll er mit einem netten, freundlichen Gegner anfangen, der sich schlecht als kommunistischer Kinderfresser attackieren lässt? Berlusconi sucht sein Heil darin, die Vergangenheit zu betonen. So sagte er vor dem Pantheon in Rom: "Veltroni tut so, als komme er vom Mars; als habe es die kommunistische Partei nie gegeben; als habe die Regierung Prodi nicht existiert." Tatsächlich sei Veltroni jedoch nur ein "recycelter Kommunist" und "ein großer Geschichtenerzähler". Doch die Italiener seien nicht so naiv, ihm zu glauben.

"Ich bin so schön"

Wahrscheinlich wird eine Mehrheit der von allen politischen Kräften enttäuschten Bürger bei der Wahl in einer Woche wieder einmal für Berlusconi stimmen. Zu verlockend ist offenbar die Versuchung, sich im märchenhaften wirtschaftlichen und politischen Erfolg dieses scheinbar alterslosen Mannes zu sonnen, auch wenn das keine Wärme bringt.

Im Ausland mag das bizarr erscheinen, da der Cavaliere dort oft wie ein unheilvoller Narr wahrgenommen wird. Ein Narr aber ist Berlusconi weiß Gott nicht. Deshalb macht er sich keine Illusionen darüber, was ihm bei einem Sieg bevorsteht: ein Himmelfahrtskommando. Er muss dann die Erwartungen eines großen, aber zerrütteten Landes schultern, das gegen die Stürme der Weltwirtschaft schlechter gewappnet ist als andere europäische Staaten. "Es wird kein Fest werden, wieder in den Regierungspalast einzuziehen", dämpft Berlusconi denn auch ungewohnt bescheiden die Hoffnungen seines Volkes der Freiheit. "Es wird vielmehr ein schweres und schmerzvolles Kreuz. Die Bürger sollten mir dankbar sein, dass ich mir das wieder antue."

Der Cavaliere versichert, er folge dem harten Ruf der Pflicht. So ganz nebenbei hilft ihm das Regierungsamt aber auch, dass sein Medienimperium auch künftig nicht von irgendwelchen Monopolgesetzen angetastet wird. Auch Korruptionsermittler werden es schwer haben, solange Berlusconi ein hohes Staatsamt innehat. Und schließlich dürfte es dem präpotenten Alpha-Mann gefallen, weiter in der Rüstung des weißen Ritters zu reiten, der Italien vor dem Verderben rettet. Auf die Frage, warum er immer noch so beliebt sei, meinte er unlängst: "Weil ich so schön bin."

"Er ist so ein interessanter Mann - wegen seines unglaublichen Charismas", schwärmt Francesca Giudarini auf der Piazza della Rotonda in Rom. Die 30 Jahre alte Juristin ist mit Freunden aus Parma angereist, um "unseren Führer" zu erleben. "Im Gegensatz zu den linken Politikern spricht er so klar. Wir Jungen verstehen, was er uns sagen will", meint sie. Auf die Frage, ob sie nicht lieber einen frischeren Premier bekommen würde als zum dritten Mal Berlusconi, schüttelt sie den Kopf: "Besser ein guter Alter als ein Junger, der nichts taugt."

Der mehrfache Großvater Berlusconi kommt zum Ende seiner Kundgebung: "Ich umarme und küsse euch alle - vor allem die jungen Frauen", ruft er. Dann setzt er sein Haifischlachen auf und schüttelt von der Bühne herab Hunderte Hände seiner ekstatischen Anhänger, während die Hymne über die Piazza braust: "Gut, dass es Silvio gibt."

© SZ vom 07.04.2008/cag - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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