Italien: Ratlosigkeit regiert in Rom:Machtwechsel und Wechselbäder

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Zunächst zeigten die Hochrechnungen ein Patt - dann haben ein paar Stimmen die Waage für Prodi nach links ausschlagen lassen. Im Moment will niemand daran denken, dass die Waage auch bald wieder andersherum ausschlagen könnte.

Stefan Ulrich

Der Direktor des Meinungsforschungsinstituts Nexus ist eigentlich ein smarter, bestimmter und selbstbewusster Mann. Doch als Fabrizio Masia nun an diesem ganz frühen Dienstag um 0.23 Uhr auf den Bildschirmen erscheint, wirkt er verwirrt und verlegen.

Eine harte Nacht für ganz Italien. (Foto: Foto: AP)

Halb kichernd, halb stotternd verkündet er mehr als neun Stunden nach Schließung der Wahllokale: "Es ist uns völlig unmöglich zu sagen, wer gewonnen hat." Die Hochrechnung für die Wahl zum Abgeordnetenhaus ergebe "ein absolutes Patt". Und beim Senat sehe die Sache nicht klarer aus. Auch dort lägen das Berlusconi- und das Prodi-Lager Kopf an Kopf: "Das Land ist komplett gespalten."

In diesem Augenblick wirkt Italien wie eine riesige Waage. Obwohl bereits die meisten Stimmen ausgezählt sind, will sich das Land noch nicht nach links oder nach rechts neigen. Doch allen ist bewusst: Schon eine Hand voll Stimmen kann die Waage nun zum Ausschlagen bringen. Nur wohin, das ist unklar.

Dabei hatte am Montag um drei Uhr nachmittags alles sonnenklar ausgesehen: Auf der lang gestreckten Piazza Santi Apostoli in der Altstadt Roms ist eine freudig erregte Menge vor dem Sitz von Romano Prodis Oppositionsbündnis "Unione" versammelt.

Die Regenwolken verziehen sich gerade, ein Stück blauer Himmel taucht über den Kirchenkuppeln auf, und die erste Wählernachfrage von Nexus flackert über die Videowand. Ein Blick, ein Schrei - die über Monate angestaute Spannung löst sich aus dem bunten Volk der Linken. Pace-Flaggen, Fahnen der Union und die Banner des Olivenbaum-Bündnisses flattern im Wind. Eine junge Frau reißt triumphierend eine Banderole empor: "Via Berlusconi" steht darauf, "Weg mit Berlusconi".

Es scheint geschafft zu sein: Nach dem wohl härtesten Wahlkampf des vergangenen halben Jahrhunderts ist der übermächtige Premier Silvio Berlusconi endlich besiegt.

Die Prognose ist überdeutlich: 50 bis 54 Prozent für die Union, 45 bis 49 Prozent für das "Haus der Freiheit" Berlusconis. Eine "Schere, die sich kaum mehr schließen kann", prophezeien die Experten in den Fernsehstudios.

Da wagt sich Massimo D'Alema, der Chef der größten Oppositionspartei "Linksdemokraten", an eine erste Bilanz: Er spricht von einem Sieg "mit historischer Bedeutung" - und von einer klaren Niederlage Berlusconis und der Rechten. Die Piazza brodelt vor Siegeslust.

Eingeschwebt per Helikopter

Andere sind vorsichtiger, allen voran Romano Prodi. Der Professore will erst um 18.30 Uhr zur Jubelfeier kommen, nach ersten gesicherten Hochrechnungen. Prodi hat am Sonntag in seiner Heimatstadt Bologna gewählt und ist dann ganz gelassen, wie ein x-beliebiger Bürger, mit dem Zug nach Rom gefahren.

Unterwegs diskutiert er mit einem im Abteil sitzenden Engländer über Europapolitik. Den Montagnachmittag wartet er in den Büros der Union an der Piazza Santi Apostoli ab. Dort hört er den Jubel, doch dann erreichen ihn verstörende Nachrichten. Die Mehrheit im Senat droht zu kippen.

Sein Rivale, der Premierminister Berlusconi, ist zu diesem Zeitpunkt guten Mutes. Er hat am Sonntag in Mailand seiner greisen Mutter - in ganz Italien Mamma Rosa genannt - beim Ausfüllen des Stimmzettels geholfen und dann einer Partie seines Privatclubs AC Mailand beigewohnt.

Den Montag will er, wie bei früheren Wahltagen, in seiner Prachtvilla Arcore bei Mailand verbringen. Doch dann erhält er diese elektrisierenden Nachrichten: Allen Umfrage-Ergebnissen und Zwischenwahlen der vergangenen Jahre zum Trotz würde es nun zumindest für ein Patt reichen, wenn nicht zu einem Sieg. "Wenn das so ist, fahre ich nach Rom", entscheidet er und besteigt seinen Helikopter.

Über die Hauptstadt senkt sich mittlerweile die Dämmerung herab. Und der Linken dämmert, dass dieser Wahlabend dunkel enden könnte. Die ersten Nexus-Hochrechnungen lösen die Prognosen ab. Plötzlich liegt das Berlusconi-Lager im Senat vorn. Dann auch in der Abgeordnetenkammer.

Mit entsetzten, im Scheinwerferlicht bleichen Gesichtern beäugen die Menschen auf der Piazza Santi Apostoli die Bildschirme. "In einem Land, das von Berlusconi regiert wird, mag ich nicht einmal daran denken, ein Kind zu bekommen", flüstert eine junge Prodi-Anhängerin. Andere setzen sich sprachlos zu Boden und lassen die roten Fahnen hängen.

Nur wenige Schritte entfernt, in der Via dell'Umiltà, der Straße der Demut, wo Berlusconis Partei Forza Italia residiert, kippt derweil die Stimmung. Depression schlägt um in Übermut. Ein Forza-Italia-Fan frohlockt: "Wir haben bis zur totalen Erschöpfung gekämpft. Berlusconi war phantastisch, und wir nicht weniger."

Industrieminister Claudio Scajola frohlockt: "Wer die Wahl zu einem Referendum über Berlusconi machen wollte, der hat verloren."

Ein zerzauster Sieger

Doch die lange Wahlnacht nimmt noch kein Ende. Während das Forschungsinstitut Nexus schweigsamer wird, treffen immer mehr Ergebnisse des Innenministeriums ein. Danach sieht es so aus, als sollte der Senat tatsächlich an Berlusconi fallen.

Bei der Abgeordnetenkammer vermeldet das Ministerium dagegen zunächst rund zehn Prozent Vorsprung für Prodi. Doch diese Marge schwindet von Stunde zu Stunde dahin wie eine Wasserlache in der Wüstensonne. Weit nach Mitternacht ist ein Patt erreicht. Die Stimmung auf der Piazza Santi Apostoli schwankt zwischen Hoffen und Bangen. Etliche Prodi-Fans zieht es nach Hause, viele andere aber halten durch.

Die Nacht ist klar und mild, und die Menschen warten, dass sich ihre Lichtgestalt Prodi endlich zeigen würde. Auf der Piazza ist sein knallgelber Kampagnen-Lastwagen als Bühne aufgebaut. "Romano Prodi Presidente" steht darauf. Die Menge döst und wartet.

Dann, weit nach Mitternacht, überschlagen sich die Ereignisse. Das Innenministerium gibt die vorläufigen Endergebnisse bekannt. Nun liegt im Abgeordnetenhaus wieder das Prodi-Bündnis vorn - und im Senat lediglich um einen Sitz zurück. Die Menschen strömen wieder auf den Platz, und ein zerzauster Prodi betritt die Bühne.

Er sieht aus, als ob er gerade eine Zechtour hinter sich hätte - eher Professor Unrat als Professore. Im Kreis der linken Parteichefs lässt er den Prosecco sprudeln. Dann spricht er die Worte, auf die alle so viele Stunden gewartet haben: "Ragazzi, wir haben gewonnen!"

Im Laufe des Dienstags wird der Sieg dann veredelt. Die Stimmen der Auslands-Italiener bescheren Prodi offenbar auch den Sieg im Senat. Doch sein alter Rivale Berlusconi sitzt ihm weiter im Nacken. Berlusconi kündigte am Dienstagabend an, das Ergebnis nicht zu akzeptieren und die Stimmen nachzählen zu lassen.

Der Cavaliere sei wie eine Katze, sagt man in Italien. Er habe viele Leben. Doch davon lässt sich das Volk der Linken die Feierlaune nicht verderben. Niemand in Italien will am Dienstag daran denken, dass die Waage bald wieder andersherum ausschlagen könnte.

© SZ vom 12.4.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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