Irak:Der Zorn des schiitischen Riesen

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Den USA droht im Irak ein Aufstand, wie ihn schon die Briten im Jahr 1920 erleben mussten.

Von Heiko Flottau

Scheich Fuad al-Turfee gibt sich gemäßigt. Der Mann mit dem gepflegten Bart, dem langen braunen Umhang und dem weißen Turban sagt: "Wir sind keine radikale Gruppe. Wir sind offen für jedermann im Irak." Der Scheich sagt auch: "Wir brauchen keine Verfassung im Irak. Denn im Koran sind alle Gesetze festgelegt." Und er macht ein Angebot: "Wenn die USA Sicherheit wollen, dann sollen sie sich an uns wenden."

Fuad al-Turfee ist Sprecher des Schiitenführers Muktada al-Sadr in der südirakischen Stadt Kufa. In Kufa wurde der Urvater der Schiiten, Ali Ibn Talib im Jahre 661 ermordet. Schon im Herbst sprach Scheich Fuad al-Turfee diese Worte, und stets klang ein drohender Unterton mit. Die Schiiten haben Geduld, aber diese Geduld mit den USA werde nicht ewig anhalten. Die Befreiung durch die USA sei zwar "Gottes Wille" gewesen, dennoch müssten die USA den "Koran und die Sunna" (die Berichte über das Leben des Propheten) anerkennen.

In ihrer Zeitung Al-Hausa indessen haben Muktada al-Sadr und sein Adjutant Fuad al-Turfee seit langem gegen die amerikanischen Besatzer agitiert. Als die Amerikaner jetzt diese Zeitung verboten und auch noch Scheich Mustafa al-Jakubi, einen Gefolgsmann Muktada al-Sadrs, festnehmen, kam es zum größten Ausbruch der Gewalt seit der Besetzung des Irak vor einem Jahr.

Sturm auf Polizeistation

In Nadschaf, wo einst der in Kufa ermordete Ali Ibn Talib begraben wurde, gab es einen regelrechten Krieg zwischen den spanischen Truppen und protestierenden Schiiten. In Bagdad versuchten Schiiten nach einer zunächst friedlichen Demonstration eine Polizeistation zu stürmen. In der südlichen Großstadt Basra, die von britischen Truppen kontrolliert wird, gab es ebenso Auseinandersetzungen wie in der Stadt Nasirijah. Inzwischen gibt es mindestens dreißig Tote, darunter drei Amerikaner, und etwa 130 Verletzte. Und es dürften noch mehr Opfer werden. Die Amerikaner hätten gewarnt sein sollen.

Man musste kein Prophet sein, um zu sehen, dass der schiitische Riese leicht reizbar ist und er sich die Schließung einer Zeitung und die Verhaftung eines Glaubensbruders nicht ohne weiteres gefallen lassen würde. Um die Dinge etwas tiefer zu ergründen, hätten die Amerikaner einen Blick ins Geschichtsbuch werfen oder ihre Alliierten, die Briten, konsultieren können.

Denn ziemlich genau vor 84 Jahren, drei Jahre nach der Eroberung des Irak durch die Briten im Weltkriegsjahr 1917, hatten sich Iraker, mehrheitlich schon damals Schiiten, gegen die Besatzungsmacht erhoben. Wie heute auch protestierte man schon damals gegen die Besatzung, gegen das Fehlen von freien Wahlen, gegen die als willkürlich empfundene Einsetzung einer Regierung durch den damaligen britischen Zivilverwalter Sir Percy Cox.

Gegen den Willen vieler Iraker installierte die damalige Besatzungsmacht ihren Mann an der Spitze des Landes, den Haschemitenprinzen Faisal I. Inzwischen haben sich manche Aufständische des Jahres 2004 die Rebellen aus dem Jahr 1920 zum Vorbild genommen. Sie haben eine Gruppe gebildet, die sich "Revolutionäre Garden 1920" nennt. Kein anderer als der oberste und meistgeachtete schiitische Führer des Irak, Groß-Ayatollah Ali al-Sistani aus Nadschaf, hat kürzlich in einer Zeitungsanzeige Iraks einflussreiche Stammesführer aufgefordert, sich die Kämpfer des Jahres 1920 zum Vorbild zu nehmen.

Für viele Iraker sind die Amerikaner von heute die Briten von gestern. Und die von den USA importierten Führer wie Ahmed Chalabi gelten ebenso als Verbündete der Besatzer wie seinerzeit König Faisal I.

Kaum ein Halten

Es ist aber eher unwahrscheinlich, dass sich die Geschichte vollständig wiederholen wird. Damals, 1920, schlugen die Briten den Aufstand nach drei Monaten nieder. Heute werden sich weder Schiiten noch Sunniten so leicht schlagen lassen. Der stets als "radikal" bezeichnete Muktada al-Sadr kann Massen von Anhängern auf die Straßen bringen. Sollte aber erst einmal der bisher reservierte Ali al-Sistani seine Stimme erheben, wird es kaum ein Halten unter den Schiiten geben. Mit dem Attribut "radikal" wird man die Aufständischen dann nicht mehr in die Ecke eines politischen Außenseiters stellen können.

"Wenn al-Sistani zur Revolution ruft, dann würde ich mein Leben für mein Land opfern", sagte eine junge Straßenverkäuferin in Bagdad zu ausländischen Journalisten. Ihr Vater hatte sie in der Erinnerung an den Aufstand von 1920 erzogen.

Doch noch hat Ali al-Sistani nicht gesprochen. Während amerikanische Hubschrauber über Sadr-Stadt kreisen, dem nach Muktada Sadrs Vater benannten Schiitenviertel in Bagdad, hält die Mehrheit der religösen Gruppe womöglich noch still. Ein frühzeitiger Aufstand liegt womöglich gar nicht im Interesse al-Sistanis. Er gilt nicht als Freund des jungen, politisch heißblütigen Muktada al-Sadr. Bis jetzt hatte es den Anschein, als sähe Ali al-Sistani die Stunde der Schiiten erst dann gekommen, wenn die Amerikaner zumindest formal die Macht an eine irakische Regierung übergeben hätten.

Dann könnte al-Sistani und mit ihm al-Sadr die von den Vereinigten Staaten oktroyierte unbeliebte Verfassung beiseite schieben und stattdessen ein islamisch geprägtes Grundgesetz formulieren. Ganz nach der Devise von Scheich Fuad al-Turfee, der sagt, dass die "amerikanische Verfassung nicht unsere Verfassung" sei und dass "Gottes Gerechtigkeit" besser sei als "des Menschen Gerechtigkeit".

© SZ vom 6.4.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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