Internationaler Strafgerichtshof:Das jüngste Gericht der Völker

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Mehr als 60 Staaten rufen ein Tribunal gegen Tyrannen und Kriegsverbrecher ins Leben - auch gegen den Widerstand Amerikas.

Stefan Ulrich

(SZ vom 11.4.02) - Für US-Senator Jesse Helms ist er ein "Monster", für UN-Generalsekretär Kofi Annan ein "Geschenk der Hoffnung". Der Internationale Strafgerichtshof weckt gewaltige Erwartungen bei Feind und Freund.

Jahrzehntelang wurde um seine Errichtung gestritten, jahrzehntelang ging nichts voran - nun ist es plötzlich doch soweit: 60 Länder müssen den im Juli 1998 in Rom ausgehandelten Gründungsvertrag ratifizieren, damit das Völkertribunal starten kann. 56 waren es bisher. Die noch fehlenden Urkunden werden am heutigen Donnerstag bei einem Festakt in New York überreicht.

Wahrscheinlich werden die 60 dabei sogar deutlich überschritten. Kambodscha - einst Schauplatz eines Völkermordes unter den Roten Khmer -, Bosnien, Bulgarien, Irland, Jordanien, Rumänien, die Mongolei und die Slowakei haben bereits angekündigt, jetzt beizutreten.

Damit könnte ein Jahrhunderte alter, hehrer Traum von Humanisten und Juristen wahr werden: Die Welt schließt sich zusammen gegen das Böse und richtet über die Feinde der Menschheit. Konkret wird das jüngste Gericht der Staatengemeinschaft für Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und schwere Kriegsverbrechen in aller Welt zuständig sein. Es soll dabei auch vor den Mächtigsten nicht halt machen, vor Präsidenten und Tyrannen. Lebten Adolf Hitler oder Pol Pot noch, sie wären genau die Angeklagten, auf die der Gerichtshof zielt.

Brüder im Ungeiste

Müssen sie also voller Angst nach New York blicken, die Despoten von Bagdad bis Pjöngjang? Werden Saddam Hussein, Kim Jong Il und ihre Brüder im Ungeiste bald in Handschellen nach Den Haag gebracht, wo das Tribunal seinen Sitz nimmt? Die Unterstützer des Gerichtshofs fürchten solche überspannten Erwartungen.

Denn danach könnte die Enttäuschung umso größer sein und das ganze Projekt diskreditieren. "Der Gerichtshof braucht Zeit", heißt daher das Mantra seiner Erbauer. Er müsse erst wachsen, bevor er wirklich wirken könne.

Zudem wird das Gericht nur Verbrechen verfolgen dürfen, die nach Inkrafttreten seines Statuts begangen werden. Vergangene Gräuel im Irak, in Afghanistan, dem Kongo oder dem Nahen Osten wird das Tribunal also keinesfalls ahnden können. Und auch mit den Massenmorden in Ruanda und auf dem Balkan, um die sich derzeit spezielle UN-Gerichte kümmern, wird es nichts zu tun haben. Diese Verbrechen haben allerdings den letzten Anstoß dazu gegeben, mit dem Aufbau des Weltgerichts endlich ernst zu machen.

Einen Standort gibt es bereits: Das Gelände der Willem-Alexander-Kasernen kurz vor den Dünen des Haager Seebades Scheveningen. Der Architekten-Wettbewerb läuft, doch bis die Baracken abgerissen und ein höchsten Sicherheitsanforderungen genügender High-Tech-Gerichtshof erbaut ist, werden noch Jahre vergehen.

So lange wollen die Vertragsstaaten nicht warten. Die holländische Regierung hat daher für die Übergangszeit ein großes, modernes Bürogebäude schräg gegenüber dem Haager Jugoslawien-Tribunal zur Verfügung gestellt. Die künftigen Weltkläger und -richter werden also auf dem kurzen Dienstweg von der immensen Erfahrung ihrer Kollegen vom Jugoslawien-Gericht profitieren können. Und Den Haag wird endgültig zur Justizhauptstadt der Erde. Denn im dortigen Friedenspalast residiert auch noch der für Streitigkeiten zwischen Staaten zuständige Internationale Gerichtshof der Vereinten Nationen.

Ab Mai soll ein Team von etwa zehn internationalen Experten als Vorauskommando den Aufbau des Weltstrafgerichts leiten. Finanziert wird es zu einem guten Teil von der EU, die das Projekt in seltener Eintracht unterstützt. Im September wird dann eine Konferenz der Vertragsstaaten über das Budget beschließen, im Januar sollen die Staaten die 18Richter und den Chefankläger wählen.

Insgesamt soll das Tribunal mit hundert Mitarbeitern starten und dann je nach Arbeitsanfall ausgebaut werden. Da Deutschland etwa 20Prozent der Kosten trägt, stehen der Bundesrepublik nach UN-Gepflogenheiten viele Stellen zu. Das Auswärtige Amt wirbt bereits um Fachleute.

Richtig einsatzbereit wird das Völkertribunal frühestens im Sommer nächsten Jahres sein. Dann könnte es tatsächlich ungemütlich werden für einige Menschenverächter.

Natürlich wird bereits spekuliert, wer zu den ersten Angeklagten zählen könnte. Genannt werden die Machthaber im Sudan wegen des Bürgerkriegs im Süden des Landes, sowie Warlords und Politkriminelle in Liberia und Sierra Leone. Auch Nigeria, das wegen seiner ethnischen und religiösen Spannungen vor einer Zerreißprobe steht, könnte ins Blickfeld der Ermittler rücken.

Wobei der Chefankläger keinesfalls vor Gericht bringen kann, wen er will. Denn die Zuständigkeiten des Tribunals sind begrenzt. Es darf nur über Fälle richten, wenn der Staat des Tatorts oder des Täters Mitglied des Gerichtshofs ist. Doch auch dann geht prinzipiell die nationale Justiz vor. Nur wenn innerstaatliche Gerichte nicht bereit oder in der Lage sind, die Völkermörder und Kriegsverbrecher angemessen zu verfolgen, kann Den Haag die Sache an sich ziehen.

Außerdem kann der UN-Sicherheitsrat dem Tribunal Fälle zuweisen. Doch so weit wird es so schnell nicht kommen. Denn im Rat sitzen zwei Mächte mit Veto-Befugnis, die dem Weltgericht feindselig gesinnt sind: zum einen China, das sich schon wegen Tibet vor dem Tribunal drücken will, zum anderen die Vereinigten Staaten. Washington befürchtet, die Weltjustiz könnte mit seiner Rolle als Weltpolizisten kollidieren.

Die Horrorvorstellungen der Amerikaner: Irgendwelche Schurkenstaaten schwingen sich zu Anklägern auf und machen das Gericht zur Propaganda-Waffe gegen US-Politiker und -Generäle. Oder arabische Staaten zerren die Führung des engen Verbündeten Israel, etwa Ariel Scharon, vor das Tribunal.

Schon die Regierung Clinton versuchte daher nach Kräften, den Gerichtshof zu verhindern oder zumindest stark zu schwächen. Gewünscht war ein Tribunal, das ganz am Gängelband des Sicherheitsrats - und damit Washingtons - hängt. Doch zur eigenen Überraschung stieß die Weltmacht damit auf massiven Widerstand.

Vorkämpfer Deutschland

Zunächst begann Mitte der neunziger Jahre eine weltweite Koalition aus Nichtregierungs-Organisationen, der heute mehr als 800 Gruppen angehören, eine kraftvolle Kampagne für das Projekt. Und dann schloss sich einer Gruppe so genannter gleich gesinnter Staaten an, zu deren Vorkämpfern Deutschland, Kanada und Holland gehörten.

Bei der Vertragskonferenz 1998 in Rom kam es zum Schwur: 120 Länder stimmten nach dramatischen Wochen schließlich für einen unabhängigen, starken Gerichtshof, nur sieben votierten dagegen. Und Washington fand sich auf einmal mit den üblichen Verdächtigen Irak und Libyen in der Schmuddelecke wieder.

Unter der Bush-Regierung hat sich der Widerstand der USA nun noch verstärkt. Im Kongress wird an einem Gesetz gearbeitet, das Sanktionen gegen Staaten vorsieht, die den Gerichtshof unterstützen. Außerdem soll die Regierung zu allen notwendigen Maßnahmen bis hin zu einer Invasion der Niederlande greifen können, um Amerikaner aus dem Gewahrsam des Tribunals zu befreien. Kritiker sprechen bereits vom "Hague Invasion Act".

Gerade in Amerika gibt es aber auch viel Unterstützung für den Gerichtshof. Einflussreiche NGOs wie Human Rights Watch oder der Amerikanische Anwaltsverein mit seinen 400000 Mitgliedern werben für das Projekt.

Sie halten die Befürchtungen der US-Regierung für unbegründet und fürchten, dass sich die Vereinigten Staaten weiter isolieren könnten und damit jeden Einfluss auf die Gestaltung des Gerichtshofs verlieren.

Benjamin Ferencz, einst amerikanischer Ankläger bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen, warnt bereits: "Die USA könnten zum Zufluchtsort für ranghohe Kriegsverbrecher werden."

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