Integration:Mama lernt Deutsch - Vorbild Stuttgart

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Baden-Württembergs Landeshauptstadt hat nach Frankfurt den höchsten Ausländer-Anteil in Deutschland - und ein Gesamtkonzept zur Eingliederung entwickelt.

Wulf Reimer

(SZ vom 15.7.2003) Mein Mann sagt, bleib zu Hause, Du kannst doch Deutsch!" Hatice Özbagci lacht; ihr Redefluss ist mitreißend. Soll sie daheim in Bad Cannstatt versauern? Hatice Özbagci schüttelt den Kopf. Sie macht lieber im multikulturellen Klassenzimmer der Martin-Luther-Schule mit und dolmetscht bei Bedarf für ihre Nebensitzerinnen. Die meisten der an diesem Vormittag 17 Frauen - fünf tragen Kopftuch - haben Kinder an der Grundschule. Sie kommen aus der Türkei, dem Libanon und aus Portugal, manche leben seit 15 Jahren in Stuttgart und besuchen nun zum ersten Mal einen Deutschkurs; sie trauen sich kaum ein Wort in der fremden Sprache zu sprechen.

Ein Drittel der Jugend Nichtdeutsche

"Mama lernt Deutsch an der Schule", heißt der Kurs, den die aus dem Kosovo stammende Lehrerin Sevdije Dije Demaj mit lebenspraktischen Dingen ("Wie schwer darf ein Schulranzen sein?") füllt. Der Name steht nun für ein größeres Projekt der Stadt Stuttgart an sechs Grund- und Hauptschulen in drei Stadtteilen. Das Programm geht zunächst bis Jahresende; zu ihm gehören Deutschkursen für Mütter (und Väter), muttersprachliche Informationsveranstaltungen zum deutschen Schulsystem, die Fortbildung für Lehrer zur Situation von Migrantenfamilien sowie sprachfördernde Lern- und Spielangebote für Kinder. Das Geld dafür kommt von der Landesstiftung Baden-Württemberg, der Stadt Stuttgart, vom Deutsch-Türkischem Forum und diversen Trägervereinen.

Stuttgart hat nach Frankfurt den höchsten Ausländeranteil aller deutschen Großstädte. Von den 589000 Einwohnern besitzen mehr als 130000 keinen deutschen Pass - ein Anteil von 22,5 Prozent. Die Liste der 170 Herkunftsländer wird angeführt von Ex-Jugoslawien (28800), Türkei (24900), Griechenland (16200) und Italien (15700). Schon jetzt sind etwa ein Drittel der jungen Stuttgarter Nichtdeutsche. Es gibt Schätzungen, wonach in der baden-württembergischen Landeshauptstadt der Anteil der Migranten bis zum Jahr 2030 auf 40 Prozent der Bevölkerung steigen wird.

Die sicherste Großstadt

Noch ist Stuttgart laut Kriminalstatistik die sicherste deutsche Metropole. Ausländerfeindliche Übergriffe und Gewalt von Ausländern gegen Deutsche sind seltener als anderswo. Dennoch droht langfristig eine Gefahr für das vom früheren Oberbürgermeister Manfred Rommel geprägte liberale Klima in der Stadt, wenn ein Teil der schlecht ausgebildeten, doppelt so oft wie gleichaltrige Deutsche arbeitslosen jungen Ausländer nicht mehr vermittelbar ist, fürchtet Gari Pavkovic. Der im früheren Jugoslawien aufgewachsene Kenner des Migrantenalltags leitet seit zwei Jahren eine von Rommels Nachfolger Wolfgang Schuster (CDU) eingerichtete Stabsabteilung Integrationspolitik der Landeshauptstadt. Kernaufgabe der im denkmalgeschützten Tagblatt-Turm untergebrachten Abteilung ist es, die Initiativen und örtlichen Angebote für Migranten zu einem "Bündnis für Integration" zu koordinieren.

Oberbürgermeister Schuster verweist sichtlich stolz darauf, dass Stuttgart eine der ersten Städte in Deutschland mit einem "integrationspolitischen Gesamtkonzept" sei. Grundlegend ist dabei der Gedanke, stadtteilbezogen zu arbeiten und die verschiedenen Anbieter von Sprachkursen - die Palette der Kooperationspartner reicht von der Arbeiterwohlfahrt bis zur Volkshochschule - trägerübergreifend zu vernetzen. Zum "Stuttgarter Modell" gehören Integrationskurse des Landes Baden-Württemberg vornehmlich für Neuzugewanderte und sogenannte "niederschwellige Sprachkurse", bei denen es eher um eine "nachholende Integration" bereits länger hier lebender Ausländer geht.

"Ich bin sehr glücklich", antwortet Rifat Neziri auf die Frage, ob ihm der Unterricht bei der geborenen Griechin Sonja Karipidou gefalle. Der Flüchtling aus dem Kosovo ist sechs Jahre in Deutschland, aber erst jetzt im Integrationskurs im Haus der internationalen Begegnung der Evangelischen Gesellschaft im Stuttgarter Osten fühlt Neziri sich wohl. Die oft von Lehrkräften aus Herkunftsländern der Migranten gegebenen Kurse dauern 150 Stunden, die Teilnehmergebühren betragen 50 Euro. Sprachlich abgedeckt sind neben Englisch und Französisch Serbisch, Kroatisch, Russisch, Griechisch, Türkisch, Italienisch, Spanisch, Portugiesisch und Thai. Von 507 Absolventen der bisher 38 Integrationskurse lebten 102 bereits zehn Jahre und länger im Land. Diese Erfahrungen zeigen, wie berechtigt die Stuttgarter Kritik am Zuwanderungsgesetz ist, sollte es tatsächlich dabei bleiben, die Bundesförderung auf ausländische Neuankömmlinge zu beschränken.

Trockenes Brot am Monatsende

Stuttgart kann sich mit seinen wohnortnahen Hilfen für Migranten sehen lassen, gewiss. Wo sonst gibt es eine dem "Haus 49" ebenbürtige Einrichtung? Das anfangs in der Nordbahnhofstraße 49, seit dessen Abriss 1996 in einem zweckmäßigen Neubau in der Mittnachtstraße untergebrachte multikulturelle Jugendzentrum kooperiert eng mit der Rosensteinschule. Deren Schüler kommen aus 25 Nationen. Den Fünft- bis Neuntklässlern bietet das von den Kirchen und einem engagierten Team ehrenamtlicher Helfer getragene Haus Mittagessen und eine Betreuung der Hausaufgaben an. In diesem innerstädtischen Quartier zwischen Doggenburg und Rosensteinstraße machen Ausländer die Hälfte der Bevölkerung aus. Sozialarbeiter kümmern sich um auffällig oder schon kriminell gewordene Jugendliche. Gökay Sofuoglu nennt das von ihm geleitete "Haus 49" ein "integratives Biotop".

Die Realität ist dennoch auch in Stuttgart für viele Fremde bitter. Von 169 städtischen Tageskindergärten liegt in 18 der Ausländeranteil bei über 90 Prozent. "Die Armut merken wir am Vesper", sagt Charlotte Krautter, Leiterin der Rosenstein-Kindertagesstätte. "Ende des Monats gibt's nimmer viel, oft nur trockenes Brot." Der Mangel kann zum Glück durch Spenden kompensiert werden.

Wann freilich die Wartelisten vieler Horte abgebaut sein werden - zumal an sozialen Brennpunkten, wo Eltern "mit umwerfendem Erfolg" eine Sprachförderung erhalten - weiß angesichts leerer Kassen des Fiskus niemand vorherzusagen. Dabei sind die bescheidenen Finanzmittel in kaum einem Bereich der gesellschaftlichen Integration besser angelegt als hier. "Am Anfang verständigen wir uns mit Händen und Füßen", sagt Charlotte Krautter. Doch nach einem halben Jahr Sprachschulung seien Mütter imstande, in verständlichem Deutsch mit den Lehrern ihrer Kinder zu reden.

Martin Schmidt ist Leiter der Martin-Luther-Grundschule in Bad Cannstatt mit 450 Erst- bis Viertklässlern aus 36 Nationen. Er beschwört die Kommunalpolitiker, die über ihr Stundendeputat hinaus engagierten Lehrer im Bemühen um Förderung und soziale Betreuung nicht hängen zu lassen. Die Lage vieler Zugewanderter ist schwierig, und sprachliche Barrieren machen alles noch komplizierter. "Bei jedem zweiten Elterngespräch", sagt Schmidt, "haben wir einen Dolmetscher dabei."

(sueddeutsche.de)

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