Indien:Wo Mädchen im Abfall landen

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Zum Tag wider die Gewalt gegen Frauen weisen die Vereinten Nationen auf verbrecherische Abtreibungspraxis in Indien hin: Dort müßte es eigentlich 50 Millionen Mädchen mehr geben.

Manuela Kessler

Der Name des Ortes ist in Indien ein Synonym für den Schrecken. Als der Bürgermeister von Alwar vor dem großen Monsun im Sommer die Anordnung erteilte, die Kanäle zu reinigen, wurden mehrere verweste und verstümmelte Föten gefunden. Nun heißt es, in der Stadt im Nordwesten Indiens würden ungewollte Kinder, alles Mädchen, im Abfall landen.

Die Vereinten Nationen haben diesen Freitag zum Tag wider die Gewalt gegen Frauen erklärt. Nach Angaben des Kinderhilfswerks Unicef wurden weltweit in den vergangenen Jahrzehnten 60 Millionen ungeborene Kinder abgetrieben oder Babys getötet, weil sie weiblich waren, die Mehrzahl in Asien.

50 Millionen Mädchen zu wenig

Allein in Indien gibt es 50 Millionen Mädchen zu wenig - und das demographische Loch wird immer größer. Die menschlichen Abgründe sind im Übrigen nicht etwa in den ärmsten Landstrichen am tiefsten, sondern in den wohlhabenden Regionen. Wo die Neureichen wohnen, im Süden der Hauptstadt Delhi, kommen bei den Geburten nur mehr 762 Mädchen auf 1000 Jungen.

Die geschlechtsspezifische Selektion hat Tradition in Indien. Früher wurden weibliche Babys, die unerwünscht waren, erstickt, erwürgt oder ausgehungert. Mit der wirtschaftlichen Entwicklung wuchsen die medizinischen Möglichkeiten. Heute lässt sich das Geschlecht von Ungeborenen per Ultraschall bestimmen. Die Geräte wurden vor zwei Dekaden mit dem Werbeslogan eingeführt: "Gib heute ein paar hundert Rupien aus - und erspar Dir damit Zehntausende Rupien Mitgift in der Zukunft."

Die Kampagne zog so viele Abtreibungen nach sich, dass die indische Regierung es dem medizinischen Personal 1994 verbot, das Geschlecht von Föten bekannt zu geben. Es half wenig: Vor Einführung der pränatalen Diagnostik wurden in Indien durchschnittlich 976 Mädchen auf 1000 Jungen gezählt, heute sind es 896 weibliche Babys.

Mobile Abtreibungskliniken bieten ihre illegalen Dienste selbst in Orten an, die weder Strom noch fließend Wasser besitzen. Der Ultraschall kostet umgerechnet zwölf Euro, die Abtreibung etwas mehr. Nach traditioneller Vorstellung sind Mädchen ein reiner Kostenfaktor: Sie beanspruchen Unterhalt, Ausbildung, Mitgift. Sie heiraten in andere Familien.

Nur männliche Nachkommen gewährleisten Altersversorgung und das Seelenheil der Eltern. Die hinduistische Tradition behält es nämlich den Söhnen vor, den Scheiterhaufen mit den sterblichen Überresten des Vaters oder der Mutter zu entzünden und, falls der Schädel im Feuer nicht birst, die Seele mit einem Beilhieb zu befreien.

Der Fortschritt hat nichts an der überkommenen Sichtweise geändert. Im Gegenteil: Mit Einzug der Konsumkultur erhöhten sich die Ansprüche noch, was eine Frau mit in die Ehe bringen muss.

Wer es sich leisten kann, hält es für sein Recht, das Unheil abzuwenden. Schwangere fragen Gynäkologen ganz nebenbei, was für Babykleider sie kaufen sollen. Die Ärzte antworten durch die Blume. Komplizenschaft ist ein gutes Geschäft.

© SZ vom 25.11.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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