Höhere Beteiligung als erwartet:Wähler im Irak trotzen Terroranschlägen

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Begleitet von zahlreichen Anschlägen ist im Irak erstmals seit 1953 eine Nationalversammlung frei gewählt worden. Die Wahlbeteiligung war in den von Schiiten und Kurden bewohnten Landesteilen überraschend hoch, arabischstämmige Sunniten blieben der Wahl jedoch häufig fern.

Von Tomas Avenarius

Sunnitische Geistliche hatten zum Boykott der Wahl aufgerufen. Abu Mussab al-Sarkawi, der Führer des Terrornetzwerks al-Qaida im Irak, hatte gedroht, dass "der Wahltag ein blutiger wird für Christen und Juden, deren Söldner und alle, die an der Wahlfarce der Amerikaner teilnehmen".

Vor allem in Bagdad und im so genannten sunnitischen Dreieck kam es zu Selbstmordanschlägen, bei denen mehr als 40 Menschen starben. Im Bagdader Stadtteil Saijuna seien zehn Menschen getötet worden, als ein Selbstmordattentäter seine Bombe vor einer als Wahllokal genutzten Schule gezündet habe, sagte ein Polizist. Unter den Toten seien neben dem Attentäter sieben Zivilisten und zwei Polizisten.

Bei einem Granatenangriff auf ein Wahllokal im schiitischen Bezirk Sadr City wurden mindestens vier Menschen getötet. Bei einem Anschlag auf einen Bus mit sunnitischen Wählern südlich von Bagdad wurden mindestens fünf Menschen getötet. Die Bombe war im Innern des Busses versteckt. Al-Sarkawis Gruppe bekante sich zu 13 Anschlägen. Schon am Vortag war es zu einem Granatenangriff auf die US-Botschaft in Bagdad gekommen, bei dem zwei Amerikaner getötet wurden.

Landesgrenzen geschlossen

Trotz der Bedrohung durch Anschläge gaben mehr Bürger als erwartet ihre Stimmen bei der Parlamentswahl ab. Die Wahlkommission in Bagdad schätzte die Wahlbeteiligung am Nachmittag auf deutlich über 50 Prozent. Auch in der südlichen Metropole Basra, mit 2,5 Millionen Einwohnern zweitgrößte Stadt des Landes, war die Wahlbeteiligung sehr hoch. Viele Wähler brachten trotz der Drohungen der Rebellen ihre Kinder mit zur Stimmabgabe.

Der UN-Vertreter bei der irakischen Wahlkommission, Carlos Valenzuela, sagte dem britischen Sender BBC, seinen Informationen zufolge liege die Beteiligung "in bestimmten Regionen über den Erwartungen". In der sunnitischen Provinz Al-Anbar westlich von Bagdad blieben allerdings die wenigen geöffneten Wahllokale nach Angaben von Korrespondenten meist leer.

In manchen Orten kontrollierten bewaffnete Aufständische die Straßen. In der Stadt Samarra mit 300000 Einwohnern gingen bis zum Mittag gerade einmal 360 Wähler zu den Urnen.Der irakische Übergangspremier Iyad Allawi sprach bei der Stimmabgabe in Bagdad von "einem historischen Datum, einem Tag, an dem die Iraker stolz sein können, weil sie den Terroristen entgegentreten und ihre Zukunft selbst bestimmen."

Die Sicherheitsvorkehrungen waren sehr streng. Insgesamt waren 300000 Mann im Einsatz: zur Hälfte irakische Sicherheitskräfte, zur Hälfte amerikanische und britische Besatzungstruppen und die mit ihnen koalierenden multi-nationalen Truppen. Seit Tagen galt nachts eine Ausgangssperre; Landesgrenzen, Flughäfen und Häfen waren geschlossen worden; die Iraker durften nicht mehr zwischen den 18 Provinzen hin- und her reisen. Am Wahltag herrschte ein Fahrverbot, fast nur Fahrzeuge der Sicherheitskräfte waren unterwegs.

Beobachter werteten die Höhe der sunnitischen Wahlbeteiligung als entscheidend für die Wahl. Sollten nur wenige Sunniten wählen und diese Gruppe, die ein Fünftel der Bevölkerung stellt, zu schwach in der Nationalversammlung repräsentiert sein, dürfte Gewalt gegenüber einer schiitisch-kurdisch dominierten Regierung die Folge sein.

Die Nationalversammlung bestimmt den künftigen Präsidenten und bestätigt dessen Wahl eines neuen Premiers. Sie arbeitet auch die neue Verfassung aus. Diese soll den Irakern im Herbst in einem Referendum vorgelegt werden. Erst dann wird die endgültige Regierung gewählt. Für die Annahme der Verfassung ist aber die sunnitische Zustimmung nötig.

Mehr als 14 Millionen registrierte Wähler waren aufgerufen, erstmals seit 1953 in einer Mehrparteienwahl eine Nationalversammlung zu bestimmen. Außerdem wurden 18 Provinzräte und ein autonomes Parlament für das Kurdengebiet gewählt. Mit dem Endergebnis rechnet die Wahlkommission zehn Tage nach der Wahl.

© Süddeutsche Zeitung vom 31.1.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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