Herrschaftsinstrument Gnade:Unverdiente Gunst

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Derzeit geht Politikern und Kommentatoren der Begriff Gnade so leicht über die Lippen als sprächen sie über etwas, dessen Bedeutung und Wesen man genau kennt, eine Art Belohnung, wie Kompott. Der inhaftierte RAF-Terrorist Christian Klar hat die Gnade nicht "verdient", kann man immer wieder lesen. Geht das überhaupt?

Rainer Erlinger

Das ist ein eigentümliches, unzeitgemäßes Wort: Gnade. Es wirkt fremd in einem Rechtsstaat. Dennoch hat man es in letzter Zeit oft gehört und gelesen, wie jetzt am Wochenende, als Antje Vollmer, die Freilassung aller RAF-Gefangenen foderte, und noch öfter im Zusammenhang mit dem Gnadengesuch, das der RAF-Terrorist Christian Klar 2003 an den damaligen Bundespräsidenten Rau richtete und über das dessen Amtsnachfolger Köhler nun entscheiden soll.

Vielleicht schrieb Klar damals ganz demokratisch an "Herrn Rau", vielleicht formulierte er es als "Antrag auf Begnadigung", vermutlich begründete er sein Gesuch. Außer Klar, den Bundespräsidenten und ihren engsten Mitarbeitern kennt niemand den genauen Wortlaut, doch im Kern konnte sein Schreiben nicht viel mehr enthalten als dieses eine Flehen: Ich bitte um Gnade.

Im Gegensatz zu einem anderen Schreiben Klars: Sein Grußwort für die Rosa-Luxemburg-Konferenz, um das sich das Medienkarussell derzeit dreht, um Wortwahl, Einstellung zum Rechtsstaat, Verhältnis zu den Opfern und Reue. Und um die Frage, welche Auswirkungen all dies auf seine mögliche Begnadigung hat. Zu Wort meldeten sich die üblichen Unverdächtigen: Edmund Stoiber, Markus Söder, Günther Beckstein, die eine Begnadigung jetzt noch vehementer ablehnen.

Auch Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse sieht sie in weite Ferne rücken. Da Klar zu einer deutlichen selbstkritischen Einsicht weder bereit noch fähig sei, verdiene er, so Thierse, keine Begnadigung. Und der FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle meint: "Wer Gnade vor Recht erbittet, aber unsere Grundordnung nicht anerkennt, hat keine Gnade verdient".

Der Begriff Gnade geht Politikern und Kommentatoren dabei so leicht über die Lippen als sprächen sie über Dinge aus dem täglichen Leben, über etwas, dessen Bedeutung und Wesen man genau kennt, eine Art Belohnung, wie Äpfel oder Birnen oder Kompott. Geht es um Nachsicht oder Nachtisch? Einerlei, wer nicht brav war, muss ohne sie ins Bett. Er hat die Gnade nicht "verdient", kann man immer wieder lesen.

Geht das überhaupt? Kann man sich Gnade verdienen? Nicht lediglich um sie bitten? Der Brockhaus definiert sie im weltlichen Bereich als herablassendes Wohlwollen, unverdiente Gunst. Dem entspricht auch die Herkunft des Wortes aus dem althochdeutschen "ginada" für eben jenes Wohlwollen, Gunst, aber auch göttliche Hilfe. Die Redewendung "Gnade vor Recht", zeigt da einen Gegensatz: Gnade steht außerhalb des Rechts. Auf Gnade kann man demnach auch keinen Anspruch haben, sie wird gewährt.

Dieser Unterschied wird auch im Fall Christian Klar deutlich: 2009 sieht das Gesetz eine Überprüfung der Fortdauer seiner Strafe durch ein Gericht vor. Zeitpunkt, Verfahren und die anzulegenden Kriterien sind genau geregelt, niemand kann Klar dieses Recht nehmen. So geschehen jüngst bei Brigitte Mohnhaupt. Anders Klars Gnadengesuch, bei dem es eben nicht um den Vollzug der Gesetze geht, sondern um etwas daneben Stehendes. Dementsprechend ist die Legitimation dieses Instruments im Rechtsstaat durchaus umstritten.

Historisch begründet es sich daher, dass die Urteile ursprünglich im Namen des Herrschers gesprochen wurden, ihre Aufhebung daher ebenfalls bei ihm lag. Zudem leitete sich seine Herrschaft selbst von der Gnade Gottes ab (Gottesgnadentum), welche er dann nach eigener Barmherzigkeit weitergeben konnte.

Korrektiv für ungewollte Härten des Gesetzes

Schon Immanuel Kant nannte das Begnadigungsrecht (ius aggratiandi) das schlüpfrigste unter allen Rechten des Souveräns "um den Glanz seiner Hoheit zu beweisen und dadurch doch in hohem Grade Unrecht zu tun". Für die heutige Zeit begründen lässt sich dieser Anachronismus am ehesten als letztes Korrektiv für ungewollte Härten des Gesetzes, als "Sicherheitsventil", wie der preußische Jurist Rudolf von Jhering formulierte.

Religionsgeschichtlich entspricht die Trennung von Gnade und Recht dem Unterschied zwischen dem alttestamentarischen gerechten Gott, der die Gesetze für alle Menschen gibt und danach richtet, und dem neutestamentarischen christlichen Gott, der Gnade walten läßt. Der zentrale Satz für diese Trennung findet sich beim Apostel Paulus im Römerbrief (3, 28): "Denn wir sind überzeugt, dass der Mensch gerecht wird durch Glauben, unabhängig von Werken des Gesetzes."

Wobei gerecht in diesem Fall die Wiederherstellung der rechten Beziehung zwischen Gott und dem Menschen nach dem Sündenfall meint. Diese erfolgt nach Paulinischer Auffassung eben nicht nach dem Gesetz, sondern durch den Glauben und das Wirken für Gott. "Dem, der Werke tut, werden diese nicht aus Gnade angerechnet, sondern er bekommt den Lohn, der ihm zusteht" schreibt Paulus zur Begründung (4, 4).

Interessanterweise ist die Frage, ob man sich Gnade verdienen muss oder kann, nicht neu in Deutschland. Wahrscheinlich macht sich kaum einer der Wortführer bewusst, dass er damit auf weltlicher Ebene einen zentralen theologischen Punkt der Reformation aufgreift, um den im Rahmen der Rechtfertigungslehre gestritten wurde. Luther entnahm dem Paulinischen Römerbrief, dass die Rechtfertigung des Menschen, also die Wiederherstellung der rechten Beziehung zu Gott allein durch die Gnade Gottes (sola gratia), durch Christus und den empfangenen Glauben, nicht aber durch sein eigenes Tun zuteil werde.

Die katholische Kirche dagegen forderte vom Sünder durch konkrete gute Werke an seiner Rechtfertigung mitzuwirken. Ein theoretisch anmutender Streit, der aber letztlich zur Kirchentrennung führte, bei dem die Härte verwundert, mit dem er geführt wurde. Weniger, wenn man über die praktischen politischen Konsequenzen der unterschiedlichen Betrachtungsweisen nachdenkt: Die Position der katholischen Kirche gibt ihr die Macht, das Leben der Menschen auf Erden zu bestimmen. Sie kann Vorschriften und Regularien dafür aufstellen, wie Werke und Frömmigkeit im Einzelnen auszusehen haben.

Der berühmte Streit um den Ablasshandel, den Luther so geißelte und der zu einem der populärsten Aspekte der Reformation wurde, entstammt diesem Problemkreis. Indem Luther die Gnade als von Gott ohne Vermittlung kommend ansah, nahm er sie der katholischen Kirche aus der gleichzeitig segnenden und züchtigenden Hand.

Ideologisch neutral

So klingt Gnade positiv, schließlich stellt sie etwas dar, das gegeben, nicht genommen wird, ein Geschenk. Betrachtet man jedoch ihre Auswirkungen wird ihr Charakter fraglich, das Geschenk zu einem der Danaer, zu einem goldenen Käfig. Ihre Loslösung von der Berechtigung, ihre Unberechenbarkeit macht die Gnade zu einem perfekten Macht- und Herrschaftsinstrument. Wer ein Recht hat, braucht die Obrigkeit nicht zu fürchten - der Müller von Sanssouci konnte es wagen, Friedrich zu widersprechen.

Wer dagegen vom Wohlwollen abhängt, muss kuschen. Nicht zufällig hat das Prinzip über das Gottesgnadentum der Herrscher Eingang in die weltliche Macht gefunden. Die Einsetzung durch Gottes Gnade kann nur Gott widerrufen, entzieht den Herrscher der weltlichen Kontrolle. In die andere Richtung macht die Weitergabe der Gnade oder ihre Verweigerung den Schutzbefohlenen abhängig und damit beherrschbar.

Gnade dient als Zuckerbrot, ihre Nichtgewährung als Peitsche bei der Dressur der Untergebenen. Die lieblich anmutende Gnade ist nichts anderes als die kleine hübsche Schwester der hässlichen Willkür. Nur diese enge Verwandtschaft mit der Willkür macht sie überhaupt zur Gnade, trennt sie vom spröden aber nachprüfbaren Recht. Und im Endeffekt ist sie in der Hand des Menschen nur ein in Schönheit verkleidetes Machtinstrument.

An dieser Stelle schließt sich der Kreis: Diejenigen Politiker, welche die Begnadigung von Wohlverhalten abhängig machen wollen, sehen vor allem das Züchtigungspotential, das dem Prinzip der Gnade innewohnt. Dabei kann man es genauso gut umgekehrt betrachten: Die Gewährung von Gnade entspringt aus Macht.

Die Bitte um Gnade beinhaltet damit die Unterwerfung unter diese Macht. Mit seinem Gnadengesuch an das Staatsoberhaupt hat Christian Klar also keineswegs seine ideologisch neutralen Rechte wahrgenommen, sondern den Staat und dessen Herrschaftsanspruch bedingungslos anerkannt. Das mag auf taktischen Erwägungen beruhen, zugleich ist es aber auch Faktum. Ebenso wie Gnade als Instrument nicht nur Wohlwollen beinhaltet, sondern auch taktische Elemente.

© SZ vom 5.3.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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