Herbert Wehner:Der Weichensteller

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Vor hundert Jahren wurde einer der wichtigsten Nachkriegspolitiker Deutschlands geboren. Heute kann der Blick frei sein für die Lebensleistung.

Jürgen Kellermeier

Die Gnade der späten Geburt war ihm wahrhaftig nicht vergönnt. Ihm, dem 1906 Geborenen und zeitlebens der Politik Verhafteten, blieb kaum eine der Erschütterungen und Verwerfungen erspart, die im vorigen Jahrhundert vor allem Europa heimsuchten.

Herbert Wehner gratuliert dem SPD-Vorsitzenden Willy Brandt zu einer Rede. Im Hintergrund Kanzler Helmut Schmidt. (Foto: Foto: AP)

Herbert Wehner, schon in jungen Jahren vom Sozialisten und Anarchisten zum Kommunisten geworden, musste in der Emigration in Moskau zwischen 1937 und 1941 einiges tun, um Stalins Liquidationen zu überleben und sich und seine Frau zu retten.

Und manches davon war derart, dass es ein Gewissen lebenslang belasten kann. Wer darüber richten will, weil er gern richtet, mag das tun. Die Zahl der Helden wächst immer mit der Entfernung von der Gefahr.

Herausragende Bedeutung

Heute, 100 Jahre nach seiner Geburt und 16 nach seinem Tod, kann der Blick frei sein für die Lebensleistung: Nichts von dem, was vor 1945 war, ändert irgendetwas an der herausragenden politischen Bedeutung, die Herbert Wehner für die Geschichte der Bundesrepublik in den drei Jahrzehnten nach ihrer Gründung hatte. Der, den manche den Zuchtmeister der SPD nannten.

Zuchtmeister? Sicher auch. Niemand aus der SPD-Führung hat den Sozialdemokraten so unerbittlich, unentwegt und streng ins Bewusstsein gehämmert, dass jeder Meter wirklicher Veränderung durch Regierungshandeln mehr wert ist als tausend Meter oppositioneller gut gemeinter Resolutionsrhetorik. Keiner warnte eindringlicher und krasser vor ideologischer Selbstbefriedigung.

Richtunggeber

Aber das beliebte Klischee vom Zuchtmeister umschreibt seine Rolle und seine Wirkungen nur sehr unvollständig. Denn mehr noch war er Weichensteller und Richtunggeber, der Mann der großen wegweisenden Entscheidungen und der strategischen Wendepunkte. Eine Zeit lang der stärkste, jedenfalls der einflussreichste Mann der deutschen Politik.

In den drei Jahrzehnten nach 1949, vor allem den 60er und 70er Jahren, gab es kaum eine bedeutende Entwicklung in der Bundesrepublik, die nicht von ihm wesentlich beeinflusst und bestimmt worden wäre.

Die Entwicklung der SPD zur regierungsfähigen Volkspartei, ihre Lösung aus der Selbstisolierung der Fundamentalopposition, ihre Abkehr vom Nein zur sozialen Marktwirtschaft und zur Westbindung, zu den Adenauerschen Westverträgen, schließlich konsequent die Bildung der Großen Koalition mit der Union 1966, der ersten Bundesregierung mit der SPD nach dem Krieg - das war nicht allein, aber vor allem sein Werk.

Gegen große Widerstände

Es brauchte eine heute kaum mehr vorstellbare Kraft, die Widerstände zu überwinden. Selbst Willy Brandt wollte sich zunächst der Großen Koalition versagen.

Wehner hatte klarer als andere erkannt, dass die Alternative, die kleine Koalition mit der FDP, die viele in der SPD damals wünschten, mit ihrer winzigen Mehrheit zu schwach gewesen wäre, um die orkanartigen Gegenwinde auszuhalten, die für ein solches Wagnis vorauszusehen waren.

Von den politischen Problemen der Zeit ganz abgesehen. Ein schnelles Scheitern der ersten Bundesregierung mit SPD-Beteiligung hätte aber für die noch fragile Regierungsfähigkeit dieser Partei einen verheerenden Rückschlag bedeutet.

Ein politischer Husarenritt

Die Stürme kamen wenige Jahre später, als Willy Brandt mit Walter Scheel ohne Abstimmung mit Wehner das sozialliberale Bündnis wagte. Ein politischer Husarenritt, der trotz euphorischer Aufbruchstimmung in den gewaltigen Konflikten um die Ostverträge schon bald dem Scheitern nahe war.

Dass die sozialliberale Koalition nicht scheiterte, dass sie sich über die schweren Turbulenzen von 1972 hinwegrettete und auch den Kanzlerwechsel 1974 einigermaßen lebensfähig überstand - auch daran war Wehners Anteil erheblich.

Ohne ihn (und seinen parlamentarischen Geschäftsführer Karl Wienand) wäre die Regierung Willy Brandts schon im April 1972 durch Misstrauensvotum gestürzt. Ohne Wehner wäre 1974 auch der Kanzlerwechsel, den er für notwendig hielt, der Wechsel von Brandt zu Helmut Schmidt, kaum so reibungslos durchgezogen worden.

Ohne beides aber, ohne die Abwehr des Misstrauensvotums und ohne Kanzlerwechsel, wäre die sozialliberale Politik, einschließlich der Ostverträge, schon kurz nach ihrem Beginn am Ende gewesen.

Herzenssache

Die Ostpolitik, der Abbau der Spannungen, die Wege zur Versöhnung, vor allem die Politik der "menschlichen Erleichterungen" im geteilten Deutschland - das war für Wehner mindestens so sehr Herzenssache wie Gebot der politischen Vernunft.

Dafür kämpfte er mit allen Waffen, über die er verfügte. Dafür schlug er sich, und dafür ließ er sich schlagen. So wurde er übrigens auch zu einer lebenden Garantie für großes Parlament und für Debatten, von denen man heute nur träumen kann.

Einsatz bis zur Selbstpreisgabe

Für die Ostverträge, einschließlich des Vertrages mit der DDR und des damals wichtigen Berlin-Abkommens, setzte sich Wehner bis zur Selbstpreisgabe ein.

So sehr, dass er im Herbst 1973 auf seiner denkwürdigen Moskau-Reise sogar den offenen Streit mit Willy Brandt nicht scheute. Dem warf Wehner vor, er lasse die Verträge "verkommen", statt sie mit Leben zu erfüllen.

Niemand weiß, wie der Konflikt ausgegangen wäre, wenn nicht wenige Monate später die Agenten-Affäre Guillaume zum Wechsel im Kanzleramt geführt hätte. Wehner war damals bereit, notfalls sein Bundestagsmandat niederzulegen.

Auch das war bezeichnend für die Rolle und das Selbstverständnis Wehners: Er hätte 1969 die Fortsetzung der Großen Koalition vorgezogen. Das hinderte ihn nicht, als es anders gelaufen war, sich mit größtem Kraftaufwand für den Bestand und die Handlungsfähigkeit der sozialliberalen Regierung einzusetzen.

Legendäre Achse

Seine legendäre Achse zum FDP-Fraktionsvorsitzenden Wolfgang Mischnick, beide Sachsen, war für das Bündnis eindeutig lebensverlängernd.

Für solche persönlichen Verbindungen, wenn sie denn dem politischen Zweck dienlich erschienen, konnte Wehner auf seine herbe Weise einen Charme von beträchtlicher Wirksamkeit entfalten.

Das hatte sich in der Großen Koalition schon im Verhältnis zum Kanzler Kurt Georg Kiesinger und dem CSU-Abgeordneten Karl Theodor von Gutenberg erwiesen, so wie zuvor in den wegbereitenden Kontakten zu einflussreichen Christdemokraten wie Heinrich Krone und Paul Lücke.

Die Anziehungskraft des ehemaligen Revolutionärs Wehner auf bürgerliche Konservative war nicht zu unterschätzen. So wie Wehner übrigens umgekehrt auf der anderen Seite seiner Skala mit seinen unglaublichen - und zumeist wohl gezielt eingesetzten - Ausbrüchen und Explosionen nicht nur im Parlament erhebliche Wirkungen erzielen konnte. Faszinierend vor allem für die, die gerade nicht betroffen waren.

Schwierig und rätselhaft

Das eigenartige Charisma dieses schwierigen und rätselhaften Mannes, der häufig zerrissen wirkte, wie gepeitscht von widersprüchlichsten Gefühlen, hat viele abgestoßen und angezogen zugleich.

Mehr Gegensätze in einer Person schienen kaum vorstellbar. Manchmal brüsk und abweisend, manchmal fast sentimental und anrührend, mal grob, grimmig und verletzend, mal verletzlich und empfindsam - die Erscheinungsformen konnten in Sekundenschnelle wechseln. Seine Ausbrüche indes sind so legendär wie seine Hilfsbereitschaft und seine Fürsorglichkeit.

Detailbesessen

Er war eben nicht nur der Mann der großen Politik und der Weichenstellungen. Mit einer zeitraubenden Detailbesessenheit kümmerte er sich um menschliche Einzelprobleme.

In seinem (Hamburg-)Harburger Wahlkreis etwa. Aber auch auf dem schwierigen Sektor der Familienzusammenführung über Stacheldraht, Todesstreifen und Mauer hinweg.

Dass Politik den Menschen zu dienen habe, war bei Wehner keine Redensart. Das hieß für ihn Chancengleichheit, Arbeitnehmerrechte, Mitbestimmung, soziale Gerechtigkeit - und im geteilten Deutschland möglichst viele Erleichterungen für die, die besonders unter der Teilung zu leiden hatten. Er hat dafür mehr getan, als der Öffentlichkeit je bekannt wurde.

An Wege zur Wiedervereinigung hat er nicht glauben können. Eher werde, so sagte er manchmal, die Sowjetunion - und die kannte er gut - die Welt in die Luft sprengen als auch nur einen Quadratmeter besetzten Bodens aufzugeben.

Ein nicht erfüllbarer Traum

Ihm schien die deutsche Einheit ein nicht erfüllbarer Traum. Von Dresden, der Stadt seiner Geburt und seiner Kindheit, sprach er gelegentlich mit wehmütiger Liebe. Er werde die Stadt nie wieder sehen. Das stand für ihn lange Zeit fest und gehörte zu den vielen Wunden, die er ständig zu verdecken suchte.

In seinen späten Jahren, als er schon von seiner schweren Krankheit gezeichnet war, ermöglichte ihm Erich Honecker einen präzise organisierten Besuch. Für den Schwerkranken war es, wie der Ostberliner Anwalt und Reisebegleiter Wolfgang Vogel nachher sagte, eine "Mischung aus Erinnerung, Wehmut und Abschied".

Einige Jahre später kam die deutsche Wiedervereinigung. Den Fall der Mauer, die Öffnung der Grenze hat Herbert Wehner - selbstlos betreut und behütet von seiner Frau Greta - wenige Wochen vor seinem Tod noch erlebt. Aber die Krankheit hinderte ihn, das Ereignis wahrzunehmen. Die ihn kannten, wissen, er wäre glücklich gewesen. Doch das Wort hätte er nicht verwendet.

© SZ vom 11.07.06 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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