Heikound Robert - zwei von 95.000 Zivis:"Wenn sie weg wären, würde etwas fehlen"

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Der eine hilft psychisch Kranken, der andere bringt alten Menschen Essen: Warum Zivis in der Sozialarbeit ersetzbar - und doch so wichtig sind.

Von Matthias Drobinski

Wässrige Flocken durchfeuchten Jacken wie Hosen, und an den Rändern seifiger Straßen lauern brei ige Pfützen. Es gibt kein schlechteres Wetter, um Essen auszufahren: Einparken im Schneematsch, raus ins Nasse, die Aluminiumpackung aus der Warmhaltebox, Joghurt, Suppe oder Salat obendrauf.

Dann in überheizte Wohnungen, wieder durch den Schnee und mit nassen Schuhen ins Auto - nur mit Mühe pustet das Gebläse des kleinen Opel Agila ein Guckloch in die beschlagene Frontscheibe. "Im September war es schöner", sagt Robert Schumack. Egal, die Leute sehnen den jungen Mann herbei, der ihren Tag in Vorher und Nachher teilt.

Sie stehen um elf Uhr am Fenster, und wenn um viertel vor zwölf noch keiner da war, gerät die Welt ins Wanken. Da heißt es pünktlich sein um jeden Preis, um fast jeden Preis: Mit einem Auge behält Robert Schumack den Bürgersteig im Auge. Die Politessen schreiben falsch geparkte Essen-auf-Räder-Autos gnadenlos auf.

"Wo es doch sonst heißt, die morden und vergewaltigen"

Anderentags zur gleichen Zeit packt Heiko Hoffmann den Schlagbohrer in seinen alten Rucksack, der ihm auch als Dokumentenablage und Fahrradwerkzeugkasten dient. Eine psychisch kranke Frau, der er hilft, hat eine Garderobe geschenkt bekommen, die soll an die Wand. "Die freut sich, wenn ich komme", sagt er.

Und seitdem die Wände gestrichen sind, ist es heller dort, und es stinkt nicht mehr so. Die meisten psychisch Kranken seien nett, "wo es doch sonst heißt, die morden und vergewaltigen". Er darf auf einen Fall die Tüte mit den Lebensmitteln nicht vergessen: Brot von gestern, eine Wurstpackung, zwei kurios gewachsene Möhren, eine Milchschnitte. Spenden von der Münchner Tafel.

Zwei Tage, zwei Zivis: Heiko Hoffmann und Robert Schumack. Beide 19 Jahre alt, beide blond, groß und schlaksig. Sonst eint sie nicht viel: Heiko Hoffmann kommt unüberhörbar aus Sachsen, aus Pommritz, wo die Orte deutsche und sorbische Namen haben; weil es keine Lehrstelle gab, ging er mit 16 allein nach München, in die fremde Großstadt. Robert Schumack ist Münchner mit präzisem Hochdeutsch; das Elternhaus des Abiturienten steht 1300 Meter von seiner Dienststelle entfernt. Sie haben gemeinsam, dass sie, anstatt zur Bundeswehr zu gehen, beide für zehn Monate zum sozialen Dienst eingezogen sind.

Wie politisch und umstritten das einmal war: Zivildienstleistender. "Drückeberger", zischelte es, als am 30. April 1961 die ersten 350 jungen Männer zum zivilen Ersatzdienst antraten - wo doch der Feind im Osten drohte. Und wie sehr das einmal eine eigene Lebensform war: Zivildienstleistender.

Weißblaue Taube am Parka

Ein Fahnenträger des Pazifismus, die weißblaue Friedenstaube am olivgrünen Parka und selbst gefärbten Sweatshirt; Teilnehmer diverser Anti-Raketen-Demos und Friedens wochen enden, im Einsatz auch an der Heimatfront: "Opa, das heißt nicht Wehrdienstverweigerung, sondern: Kriegsdienstverweigerung!"

Eine einheitliche Lebensform ist der Zivildienst lange nicht mehr. Eher eine vom Aussterben bedrohte Art: Endet in einigen Jahren die allgemeine Wehrpflicht, ist auch der Zivi am Ende. Schon jetzt leisten nur noch 95000 Zivis ihren Dienst statt 150000 im Jahr 1997, die Dienstzeit hat sich seit 1984 von 20 auf zehn Monate halbiert.

Immerhin: Jahrgang für Jahrgang haben in den vergangenen Jahren mehr als 35 Prozent der tauglich Gemusterten den Kriegsdienst verweigert. Der Zivildienst ist ein Normalfall geworden, mit normalen jungen Menschen in einer Zeit, der ohnehin das Weltverbesserische abhanden gekommen ist. Heiko Hoffmann hat, das sagt er offen, die argumentative Gliederung seiner Verweigerung aus dem Internet heruntergeladen; er ist Computerfreak und kein Meister des Wortes.

Längst vorbei sind die Zeiten, da Kriegsdienstverweigerer ihr Grundrecht (Artikel 4.3: "Niemand kann gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden") in einem oft entwürdigenden Verfahren vor einem Ausschuss erstreiten mussten. Heute genügt ein Schreiben ans Kreiswehrersatzamt. Die Ratgeber empfehlen, Grundsätzliches übers Töten zu schreiben, dann über Prägungen in der Kindheit, Opas Kriegserzählungen einzuflechten und zu enden:

13 Mittagessen, 13 Menschen

"Deshalb verweigere ich den Kriegs dienst mit der Waffe aus Gewissensgründen." Robert Schumack hat die zweieinhalb Seiten selber formuliert. Zu Hause werde Gewalt abgelehnt; er könne sich nicht vorstellen, auf einen fremden Menschen zu schießen. "Ein bisschen aufgebauscht, aber im Prinzip ist es so", sagt er. Trotzdem hat er auch überlegt, zum Bund zu gehen; das hilft dir später mehr im Leben, hatte ihm ein Onkel geraten.

Täglich liefert die Caritas im Westen von München auf neun Touren 220 Essen an alte Menschen, an den Wochenenden etwas weniger, macht mehr als 76000Portionen im Jahr. Tour neun, die er heute fährt, ist in Ordnung, sagt Robert Schumack. Sie ist die längste, von den Neuaubinger Eisenbahner-Wohnblocks bis zu den Villen am Pasinger Westpark.

Aber hier gibt es keinen Meckerer, der empört in der Zentrale anruft, wenn das Essen mal fünf Minuten zu spät kommt, und weitermäkelt, wenn es da ist. Manche machen allerdings nur nach einem misstrauischen Blick durch die Gardine auf. 13 Mittagessen, 13 Menschen: die Dame, die immer am Fenster sitzt und auf die Eisenbahngleise schaut. Der alte Herr, der auf seine blitzsaubere Küche zeigt und sagt "Die hat noch meine Frau eingerichtet." Oder die 87-Jährige, der genau erklärt werden muss, was es heute gibt - sie ist fast blind.

Robert Schumack ist angenehm höflich. Er sagt:"Lassen Sie es sich schmecken." Er erklärt geduldig, hört aufmerksam zu. Und hat die Uhr im Auge: Nach fünf Minuten muss er sich verabschieden, sonst warten die anderen. Manche der alten Leute wollen ihn gar nicht loslassen.

Der Zivildienst war ein Glücksfall

Die Männer erzählen aus ihrem Leben, die Frauen fragen, ob er schon Kinder hat. Würde er alle Süßigkeiten essen, die er zugesteckt bekommt, hätte er ein Gewichtsproblem. Robert Schumack wollte zu "Essen auf Rädern". "Seelisch harte Jobs, bei Sterbenden zum Beispiel, hätte ich nicht ausgehalten", sagt er. Ein Fünf-Minuten-Kontakt und dann wieder Abstand, das ist in Ordnung. Er fährt gerne Auto, er wollte in München bleiben; sein regelmäßiges Fußballtraining ist ihm wichtig.

So genau hat Heiko Hoffmann nicht geplant. Er stand am Ende seiner Lehre zum IT-Kaufmann ohne Job da, und ohne Job hätte er zurück gemusst in die Pommritzer Provinz, wo er doch gerade seine Freundin hier gefunden hatte. Da war der Zivildienst ein Glücksfall; nun zahlt das Bundesamt das Zimmer. Er ist beim sozialpsychiatrischen Dienst der Caritas in Laim gelandet, der psychisch Kranken hilft, das Leben zu organisieren.

Er ist der junge Mann für alles, der aufräumt, Wohnungen putzt, einkauft. "Manchmal ist es ein bisschen eklig", sagt er. Die Medikamente sind gnädig und gnadenlos zugleich: gnädig, weil sie den Wahn vertreiben, gnadenlos, weil sie die Menschen sich selber fremd machen, antriebsarm und aufgeschwämmt. Dann ist schon mal die Wohnung verkotet, liegen auf dem Esstisch grünschillerndes Fleisch und schimmelbepelzter Käse. Und der Zivi muss es wegmachen.

Durch den Türspalt lächelt eine Frau undefinierbaren Alters im Trainings anzug und mit strubbeligen Haaren. Eine feuchte Einraumwohnung mit Bettsofa, auf dem Herd das Essen von gestern. Der Rauch tausender Zigaretten ist in die Gardine gekrochen und hat die Scheuerpulverdose gegilbt, die Lampe, den Plattenspieler, das Regal geteert.

"Der Heiko ist wichtig hier"

"Ist rausgegangen", sagt die Frau und zeigt eine Steckdose her. Kein Problem. Auch die Garderobe, Ersatz für den Kleiderschrank, ist bald an die Wand gedübelt. "Hab Spritze bekommen", erzählt die Frau fröhlich drauflos, "gegen die Ängst'". Und dann hat sie das Bad geputzt. Oh je, sagt Heiko Hoffmann und sammelt den Haufen feuchter Lappen auf.

Mittags verbreitet sich im sozialpsychiatrischen Zentrum Laim Wohngemeinschafts-Atmosphäre. Der Arzt, die Sozialarbeiter und Pädagogen treffen sich, es gibt Nudeln mit Paesto. Für den Ex-Lehrling aus Sachsen ist die Duz-Atmosphäre immer noch neu, auch, dass eine Frau als Dienststellenleiterin die Vorgesetzte des Arztes ist, der am Zentrum arbeitet. Die Frau heißt Theresa Holzapfel und sagt: "Der Heiko ist wichtig hier."

Weil er für die Kranken einer von draußen ist, ein Normalo. Weil er nicht immer die Diagnose im Kopf haben muss, anders als die Profis vom Zentrum. Der Zivi erfährt sie in der Regel nicht einmal. Am Anfang hat er mal einer Frau mit chronischer Schizophrenie auf die Schulter gehauen und gesagt: "Wird schon wieder." Eine sehr andere Welt, die ihn inzwischen fasziniert. Aber ein Sozialberuf - dafür müsste er das Abitur nachholen, sagt er und seufzt.

Robert Schumack macht keine Mittagspause. Er isst im Stehen ein Brot, trinkt einen Pott Tee, dann hat er pünktlich Feierabend. Die Portionspackungen müssen in der Kältekammer sortiert werden, eine lausige Arbeit bei minus 30 Grad. Und dann ist die Tour zum Wertstoff-Hof, weil sich Svenja Schneider, seine Chefin, in den Kopf gesetzt hat, dass der Keller entrümpelt werden sollte.

Die Ungerechtigkeit zwischen Dienenden und Nicht-Dienenden

"Das kann man alles brauchen", mault er, als er den Haufen sieht. "Mein Sohn sagt auch immer: Mama, nix wegwerfen", kontert die Chefin grinsend. "He, ich werde mit einem Fünfjährigen verglichen", protestiert Robert Schumack.

"Ein Organisationstalent", lobt Frau Schneider ihren Zivi. Morgens, wenn die Portionspackungen in den Ofen müssen, schafft er allein die Arbeit von zweien - eine Stelle ist derzeit unbesetzt. Auch Robert Schumack klingt zufrieden, wenn er die lockere Atmosphäre lobt. Selbst, wenn er sagt, dass die Arbeit schon mal eintönig ist und auch einsam, wenn man nur das Autoradio zum Begleiter hat. "Aber solche Sachen muss man später auch mal aushalten können", sagt er.

Was ihn ärgert, ist die Ungerechtigkeit zwischen Dienenden und Nicht-Dienenden. Dass, wer kleinere körperliche Mängel und Gebrechen glaubhaft machen kann, inzwischen ausgemustert wird und studieren darf. Der Zivildienst als Karrierekiller. "Quatsch", sagt Svenja Schneider, "inzwischen schicken die großen Firmen Manager zur Caritas zum Praktikum, damit sie den Umgang mit Menschen lernen." Was Robert Schumack einmal werden will?

Steuerberater vielleicht, wie die Eltern. Auf jeden Fall was mit Zahlen. Bevor es zum Abitur ging, hat er eine Hausarbeit geschrieben: "Lineare Algebra in der Wirtschaftswissenschaft". Das hätte mal einem Zivi anno 1984 passieren sollen.

Heiko kostet 6750 Euro im Jahr

Wenn es keine Zivis mehr gäbe, könnten wir leicht umorganisieren, sagt Svenja Schneider. Im bürgerlichen Obermenzing fahren bereits jetzt 40 Ehrenamtliche Essen aus. Aber so sagt die Caritas-Frau: "Ein Zivi ist anders." Freiwillige können gehen, von einem auf den anderen Tag. Sie müssen um zwei Uhr Kinder oder Enkel von der Schule abholen und sind gezwungen, schnell fertig zu werden.

"Das Besondere am Zivi ist, dass er eine Viertelstunde langsamer sein kann als die anderen", sagt Svenja Schneider. Das Einzigartige am Zivi ist die Zeit, die er hat.

"Unsere Arbeit würde nicht zusammenbrechen", sagt auch Frau Holzapfel. "Aber es würde etwas fehlen." Nicht nur, weil ein Zivildienstleistender konkurrenzlos günstig ist: Heiko Hoffmann kostet 6750 Euro im Jahr, davon zahlt der Staat 2700 Euro. "Der Geist in der ganzen Sozialarbeit würde sich ändern", sagt die Sozialpädagogin.

Zum einen, weil der Männeranteil im gesamten Berufsspektrum noch geringer wäre - der Zivildienst ist für viele junge Männer der Einstieg in einen Pflege- oder Sozialberuf. Und dann, weil "viele Kleinigkeiten nicht mehr gingen". Die unökonomischen Kleinigkeiten der Zuwendung.

Spaß haben mit den Leuten

Zum Beispiel mit der S-Bahn hinaus zum psychiatrischen Krankenhaus Haar zu fahren, wohin ein älterer Mann eingewiesen wurde, nur um ihm Tabak, Zigarettenpapier und 15 Euro für einen Haarschnitt zu bringen. Dieser Mann hält sich gerade für einen wichtigen General und entzieht den Tabak sofort dem Zugriff der Geheimdienste, indem er ihn unter der Bettdecke versteckt.

Aber für zehn Minuten glaubt er wieder an die Menschheit: Da ist ein normaler Mensch seinetwegen quer durch die Stadt gefahren und lässt ihn in seinem schweren Amt nicht ohne Zigaretten. "Bist Du der Neue?" fragt ein pickeliger Junge Heiko Hoffmann mit gieriger Aufmerksamkeit. Der schüttelt erschrocken den Kopf. "Der ist jünger als ich", sagt er später erschüttert.

Zwei Tage, zwei Zivis. Keine Helden des Sozialen, keine Visionäre einer waffenlosen Welt. Junge Männer eben an der Schwelle, hinter der das richtige Leben liegt, wie die Leute sagen. Und bevor das losgeht, hat Robert Schumack gelernt: "Jeder von uns kann mal hilflos irgendwo sitzen - egal wie stark und erfolgreich er jetzt ist."

Bevor es losgeht mit der Suche nach dem Platz im Leben, sitzt Heiko Hoffmann beim Spieleabend mit zwei Frauen und fünf Männern, denen sich, kaum sind sie aus dem einen schwarzen Loch gekrochen, bald das nächste unter den Füßen öffnet.

"Je jünger man ist, desto besser geht es"

Es ist trotzdem ein fröhlicher Abend mit Memory und Mensch-ärgere-Dich-nicht, Mühle, dem Börsenspiel, giftgrüner Limonade und Geburtstagskuchen, auch wenn die Gespräche manchmal merkwürdige Wendungen nehmen: "Das Medikament nimmst Du? Hat es da nicht gerade Todesfälle gegeben?" Heiko ist ein Meister des Memorys.

"Je jünger man ist, desto besser geht es", sagt er, fast entschuldigend, wenn er wieder einmal gewonnen hat. Aber jemanden gewinnen lassen, aus therapeutischen Gründen, käme nicht in Frage. Da will einer einfach Spaß haben mit den Leuten, deren Diagnose ihm völlig egal ist: Das ist der Mehrwert des Zivis.

© SZ vom 03.02.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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